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=?UNKNOWN?Q?Todesm=E4rsche?= nach Aleppo / Death marches to Aleppo

Der Spiegel, Deutschland
Montag 18. April 2005

Death Marches to Aleppo: In the first Genocide of the 20th century,
th Turks killed more than a million Armenians

Todesmärsche nach Aleppo

von Klaus Wiegrefe

Im ersten Genozid des 20. Jahrhunderts brachten Türken mehr als eine
Million Armenier um.

Garbis Hagopjan hasst Hunde, seit er mitansehen musste, wie
streunende Tiere den Leichnam seines Vaters zerfleischten, der an
Erschöpfung gestorben war. “Er hat mir alles an Essen gegeben, was er
auftreiben konnte”, sagt Garbis, “er hat sich geopfert, damit ich
lebe.”

Der Junge war damals acht Jahre alt, vielleicht auch neun, so genau
weiß er das nicht, denn die Familienpapiere sind verloren gegangen.
Irgendwo auf dem langen Weg zwischen seinem armenischen Heimatdorf
Çalgara bei Bursa in der Westtürkei und Mossul im heutigen Irak –
einem Todesmarsch, der ihn und seine Familie während des Ersten
Weltkriegs quer durch das Osmanische Reich geführt hat.

Die Leidensgeschichte der Hagopjans begann im Frühjahr 1915, als
türkische Uniformierte in Çalgara auftauchten und den Armeniern des
Ortes befahlen, sich auf einen Abtransport vorzubereiten. Auch die
Hagopjans mussten sich fertig machen.

Garbis ging schon zur Schule, daran kann er sich erinnern – und
daran, dass er nach dem mehrtägigen Marsch zum Sammelplatz in Kütahya
die ersten Toten gesehen hat: verhungerte oder verdurstete Armenier.
Niemand kümmerte sich um die Tausende Deportierten, die aus der
ganzen Umgebung auf freiem Feld zusammengetrieben wurden.

Schon bald ließen die Häscher Marschkolonnen bilden. Dann ging es bei
glühender Hitze mehrere Wochen über staubige, baumlose Wege und
Gebirgspfade Richtung Südosten. Der Elendszug, in dem die Familie
Hagopjan mitlief, war einige hundert Meter lang. Jeden Tag wurde er
kürzer. Wer nicht mitkam, verendete auf der Straße.

Schreckliche Szenen prägten sich dem Jungen ein: Überfälle von Türken
und Kurden, welche die Vertriebenen ausplünderten; Tritte gegen
schwangere Frauen, die dann ihre Föten verloren; die Trennung von
Mutter und Schwester, als türkische Gendarme vor Aleppo im heutigen
Syrien den Zug teilten. Garbis hat sie nie wiedergesehen.

Immerhin schafften es er, sein Vater und eine weitere Schwester bis
in die Gegend um Mossul. Dort wurden sie auf arabische Dörfer
verteilt, doch nur der Junge überlebte die Strapazen. Eine arabische
Familie nahm ihn als Diener auf.

Erst als 1918 Amerikaner, Briten und Franzosen das Osmanische Reich –
während des Ersten Weltkriegs Bündnispartner Kaiser Wilhelms II. –
besiegt hatten, endete Hagopjans Leidensweg. Die Ankunft indischer
Kavalleristen des Empires in Mossul, die Bonbons in die Menge warfen,
zählt bis heute zu den schönsten Momenten in seinem langen Leben.

Garbis Hagopjan wohnt in Paris und muss in diesen Tagen oft das
Erlebte berichten. Denn er gehört zu den wenigen, die den ersten
großen Genozid des 20. Jahrhunderts noch bezeugen können: die Tötung
der Armenier im Osmanischen Reich vor 90 Jahren.

Die jungtürkische Bewegung aus westlich orientierten Mili-

tärs und Beamten um Kriegsminister Enver Pascha sowie den
Innenminister und späteren Großwesir Talaat Pascha träumte von einer
Großtürkei ohne bedeutende ethnische Minderheiten. Und gnadenlos
setzten die Jungtürken diesen Traum in die Wirklichkeit um.

Am Abend des 24. April 1915 verhafteten Polizisten in Konstantinopel,
wie Istanbul damals hieß, 235 armenische Politiker, Journalisten,
Bankiers, Intellektuelle – für die Armenier seither der Tag des
Gedenkens an den Beginn des Völkermords. Die Männer wurden in rote
Militärbusse geprügelt, am nächsten Tag aus der Hauptstadt gefahren
und fast alle erschlagen. Offenkundig wollten Enver und Talaat
zunächst die Führung der Minderheit ausschalten.

Wohl knapp zwei Millionen der gregorianisch-orthodoxen Christen
lebten 1915 im Bosporus-Imperium. Die meisten arbeiteten als Bauern
und Handwerker in Anatolien, wo Armenier seit über 3000 Jahren
siedelten. Einige hunderttausend waren auch im Laufe der Jahrhunderte
in die Küstenregionen abgewandert und trieben dort Handel. Doch am
Ende des Ersten Weltkriegs, drei Jahre später, gab es in den
zentralen Siedlungsgebieten keine Armenier mehr.

Was mit ihnen geschah, haben nicht nur Überlebende, sondern auch
Krankenschwestern, Techniker, Diplomaten oder deutsche Offiziere
bezeugt, die dem türkischen Bündnispartner als Militärberater
dienten.

W. Spieker etwa, der bei der Bagdad-Bahn beschäftigt war, berichtete
am 27. Juli 1915 dem deutschen Konsul in Aleppo: “In Besniye ist die
ganze Bevölkerung von circa 1800 Frauen und Kindern und nur wenigen
Männern ausgewiesen; sie sollten angeblich nach Urfa abtransportiert
werden. Am Göksu … mussten sie sich auskleiden, wurden sämtlich
niedergemacht und in den Fluss geworfen.”

Schwester Alma Johansson vom Waisenhaus des “Deutschen Hülfsbundes
für christliches Liebeswerk im Orient” notierte im Herbst 1915 über
die Deportationen in Mus: “Wo alle aus unseren Häusern fort waren,
bekamen wir zwei Gendarmen zum Schutz, diese erzählten uns alle
dieselben haarsträubenden Geschichten. Die Männer, die noch lebendig
eingefangen wurden, wurden gleich außerhalb der Stadt erschossen. Die
Frauen wurden mit den Kindern nach den nächsten Dörfern gebracht, zu
Hunderten in Häuser getan und verbrannt.”

Der deutsche Konsul Wilhelm Litten schrieb auf, was er am 31. Januar
1916 auf der Straße zwischen Deir al-Sor und Tibni im heutigen Syrien
sah:

2 Uhr: 5 frische Gräber. Rechts: ein bekleideter Mann.
Geschlechtsteil entblößt.

2.05 Uhr: Rechts: 1 Mann, Unterleib und blutendes Geschlechtsteil
entblößt.

2.07 Uhr: Rechts: 1 Mann in Verwesung.

2.08 Uhr: Rechts: 1 Mann, vollkommen bekleidet, auf dem Rücken, Mund
weit aufgerissen, Kopf nach hinten gestemmt, schmerzentstelltes
Gesicht.

2.10 Uhr: 1 Mann, Unterkörper bekleidet, Oberkörper angefressen.

2.25 Uhr: Links am Wege: 1 Frau, auf dem Rücken liegend, Unterkörper
angefressen, nur die blutigen Schenkelknochen ragen noch aus dem
Tuch.

Es sind Szenen, wie sie heutzutage aus Bosnien oder Ruanda bekannt
sind: Flüsse führten Tausende aufgedunsener Körper mit sich; in
abgelegenen Schluchten verwesten Leichen in Massengräbern, die
Gebeine säumten auf Hunderten von Kilometern die Wegränder.

Schon Zeitgenossen empfanden das Vorgehen der Führung in
Konstantinopel um den intelligenten und skrupellosen Talaat, der sich
vom Angestellten eines Telegrafenamts hochgearbeitet hatte, als Bruch
mit der Zivilisation. Der spätere britische Premierminister Winston
Churchill, 1915 Kriegsmarineminister, sprach von einem “schändlichen
Massenmord”.

Das 20. Jahrhundert hatte mit großer Aufbruchstimmung begonnen. Die
Menschen glaubten an eine goldene Zukunft voller Fortschritt und
Wohlstand. Der Genozid an den Armeniern trug dazu bei, dass dieser
Optimismus verloren ging. Dem ebenfalls bei der Bagdad-Bahn
angestellten Ingenieur Linsmeyer kamen die Tränen, als er in Ras
al-Ain anderthalbtausend halbverhungerte Frauen und Kinder bei über
40 Grad schutzlos in der Sonne liegen sah: “Ich hielt es nicht für
möglich, dass in unserem Jahrhundert so etwas passieren könne.”

Das gleiche “Nie wieder”, das sich die Überlebenden des
Konzentrationslagers Buchenwald 1945 schworen, war auch schon nach
der Armenierverfolgung zu vernehmen. Der polnische Jurist Raphael
Lemkin entwarf nach diesem Völkermord ein Gesetz “gegen die
Zerstörung nationaler, religiöser und rassischer Gruppen”, doch die
Anregung blieb ohne Echo. Erst nach dem Holocaust fand Lemkin – von
ihm stammt das Kunstwort Genozid, zusammengesetzt aus dem
griechischen “genos” (“Geschlecht”) und dem lateinischen “caedere”
(“töten”) – Gehör. 1948 wurde aus seinem Entwurf die Uno-Konvention
über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords abgeleitet, heute
Grundlage etwa für die Verfahren vor dem internationalen
Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gegen Slobodan Milosevic und
andere Täter, die in Jugoslawien wüteten.

Womöglich war der Mord an den Armeniern sogar das Schlüsselereignis
des durch Völkermorde geprägten 20. Jahrhunderts. Denn die
Zeitgenossen registrierten genau, dass die meisten Verbrechen an den
Armeniern nicht geahndet wurden. Unter dem Druck der siegreichen
Alliierten verurteilten zwar türkische Gerichte 17 der
Hauptverantwortlichen um Talaat zum Tode, doch fast alle entzogen
sich der Strafe durch Flucht. Einige wurden später sogar Minister.

Die Bewunderung der Nationalsozialisten für die Jungtürken war
jedenfalls groß. NS-Chefideologe Alfred Rosenberg lobte sie 1926 als
treue Verbündete und schmähte die Opfer. Diese wären – wie auch die
Juden – den Mittelmächten während des Ersten Weltkriegs in den Rücken
gefallen. Da seien “einige Härten nicht zu umgehen” gewesen. 1939
soll Hitler bei einer Ansprache vor den Spitzen der Wehrmacht
mögliche Einwände gegen den Massenmord an polnischen Zivilisten mit
dem Hinweis “Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?”
verworfen haben.

Die jungtürkische Führung camouflierte den Genozid als kriegsbedingte
Umsiedlung, bei der es nur wenige Tote gegeben habe, was deutsche
Diplomaten schon damals als “krasse Lügen” bezeichneten. Armenische
Männer wurden meist vor Ort umgebracht, die Überlebenden gemeinsam
mit Frauen und Kindern zunächst nach Aleppo und dann in die syrische
und mesopotamische Wüste deportiert. Ungefähr 200 000 Menschen fielen
dort Massenhinrichtungen zum Opfer. Weitere 400 000 verendeten auf
den Todesmärschen oder in Lagern unter freiem Himmel.

Nach der militärischen Niederlage gab das türkische Innenministerium
die Zahl der Opfer mit 800 000 an. Die deutsche Botschaft in
Konstantinopel ging von knapp doppelt so vielen Toten aus, und so
sehen es die Armenier bis heute.

Dabei hatte das Osmanische Reich jahrhundertelang religiöse
Minderheiten besser behandelt, als es die europäischen Imperien
taten. Gleiche Rechte erhielten Christen und Juden freilich nie. Dass
diese Gruppen dennoch vom wirtschaftlichen Aufschwung besonders
profitierten und teilweise ganze Wirtschaftszweige dominierten,
machte sie zusätzlich unbeliebt. Schon bei Pogromen im letzten
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts starben mindestens 200 000 Armenier.

Die europäischen Rivalen der Hohen Pforte, insbesondere Russland, wo
vor dem Ersten Weltkrieg etwa eine Million Armenier lebte, nutzten
die Unterdrückung der Christen, um das marode Osmanische Reich weiter
zu schwächen. Bald galt die armenische Minderheit als fünfte Kolonne
Moskaus.

Eine Lösung für die sogenannte armenische Frage schien sich erst
anzubahnen, als die Jungtürken 1908 die Macht übernahmen. Viele der
späteren Massenmörder hatten zuvor – während des Sultanats – im
französischen Exil gelebt. Die nach der Pariser Zeitschrift “La Jeune
Turquie” benannte Bewegung wollte das Osmanische Reich durch
Modernisierung nach westlichem Vorbild retten. Gegenüber Forderungen
der Armenier nach Selbstverwaltung zeigten sich die Jungtürken
zunächst aufgeschlossen.

Doch zwischen 1908 und 1913 mussten die selbsternannten Reformer fast
den gesamten europäischen Teil des Reichs abtreten: Bulgarien,
Bosnien-Herzegowina und Kreta; die dort lebenden Muslime wurden
massenhaft vertrieben. Die durchaus begründete Angst, dass der Zar
nun auch noch die armenische Frage nutzte, um Anatolien abzuspalten,
ließ Untergangsstimmung aufkommen.

Jetzt entfaltete das andere Erbe seine Wirkung, das die Exilanten aus
Westeuropa mitgebracht hatten: der Traum vom ethnisch homogenen
Nationalstaat. Das Gefühl griff um sich, berichtete die jungtürkische
Schriftstellerin Halide Edip Adivar später, “die Türken müssten
andere ausrotten, um ihrer eigenen Ausrottung zuvorzukommen”.

Jungtürkische Ideologen propagierten zudem einen Staat aller
Turkvölker zwischen Thrakien im Westen und China im Osten. Da störten
die Armenier, deren Siedlungsgebiete beiderseits der
osmanisch-russischen Grenze sich wie ein Riegel durch die
muslimischen Gebiete schoben.

“Wir haben den Balkan verlassen und müssen uns zum Osten ausdehnen”,
erklärte später der türkische General Mehmed Vehib gegenüber
Armeniern, “unsere Brüder sind in Daghestan, Turkestan und
Aserbaidschan. Ihr Armenier steht uns da im Weg. Ihr müsst weichen
und uns den Raum geben.”

Die Historiker streiten, ob es schon vor dem Ersten Weltkrieg einen
zentralen Beschluss gegeben hat, die Armenier umzubringen. Anzeichen
dafür gibt es. So bezeichneten Jungtürken intern die Armenier als
“Tumoren” oder “Seuchenherde”, die es zu beseitigen gelte.

Doch viele Unterlagen sind verschwunden. Die wichtigen Entscheidungen
wurden von wohl einem Dutzend Männer im Zentralkomitee der
jungtürkischen Partei getroffen.

Manche Wissenschaftler meinen, dass zunächst eine Vertreibung, wie
sie im Weltkrieg auch der Zar mit den Juden in seinem Reich
praktizierte, nicht aber ein Genozid geplant gewesen sei. Die Türken
hatten im Laufe der Geschichte des Osmanischen Reichs immer wieder
ethnische Minderheiten aus strategisch wichtigen Gebieten
ausgesiedelt. Die ersten opferreichen Vertreibungen von Armeniern im
Herbst 1914 und die Entwaffnung armenischer Soldaten scheinen noch
von solchen Erwägungen bestimmt gewesen zu sein.

Im Frühjahr 1915 spitzte sich die militärische Lage jedoch zu. Im
Osten flohen die osmanischen Truppen vor der zaristischen Armee, am
19. Februar 1915 begann dann der Angriff der Briten auf die
Dardanellen; der Fall Konstantinopels schien unmittelbar
bevorzustehen. In der Hauptstadt standen bereits Züge für eine Flucht
Talaats bereit.

Die Panik erwies sich als unbegründet; das Kriegsglück wendete sich
bald wieder. Aber die Hysterie gab Verschwörungstheorien Auftrieb,
denen zufolge die Armenier mit dem Feind paktierten.

Obwohl nur eine kleine Minderheit der Armenier gegen die osmanische
Herrschaft aufbegehrte, Waffenlager anlegte und als Freiwillige auf
russischer Seite kämpfte, steigerte sich der Hass der türkischen
Elite auf die Armenier “zu einer Obsession”, so die Wissenschaftler
Hans-Lukas Kieser und Dominik Schaller. Man müsse “vor dem inneren
Feind genauso viel Angst haben wie vor dem äußeren”, erklärte
Bahaeddin S~akir, einer der Organisatoren des Genozids. Er ließ die
Opfer nun auch aus strategisch unwichtigen Gebieten deportieren und
umbringen.

Die Durchführung des Massenmords übernahm die sogenannte
Spezialorganisation, eine paramilitärische Einheit aus etwa 30 000
Sträflingen, Kurden und Türken, die aus den ehemals osmanischen
Gebieten in Europa vertrieben worden waren. Die Männer unterstanden
der Armee und wurden von Offizieren oder Parteisekretären der
Jungtürken angeleitet. Reguläre Armee-Einheiten und kurdische Stämme
unterstützten die Paramilitärs.

Wie weit der Genozid bis in die Einzelheiten von der
Regierungszentrale geplant war und wann er sich aus der jeweiligen
Situation vor Ort entwickelte, ist nicht mit letzter Sicherheit zu
klären. Ein Transport mit einigen tausend Armeniern aus Erzurum wurde
zunächst von 300 Soldaten ins 200 Kilometer entfernte Kemah geführt.
Dort präsentierte ein Offizier eine Liste mit 200 Namen; er ließ die
Betreffenden abseits führen und von Angehörigen der
Spezialorganisation umbringen. Alle anderen mussten den Weg
fortsetzen.

Dann, 150 Kilometer weiter südlich, übergaben die Militärs den Zug
einigen Kurdenführern. Sie brachten die Deportierten in die Berge und
massakrierten alle Männer, die nicht kurdisch sprechen konnten. Der
Rest zog mit den Frauen weiter. Ein Großteil erlag schließlich den
Strapazen.

Anders als die Nazis, die jüdische Kinder ebenso ermordeten wie zum
Christentum übergetretene Juden, ließen Türken und Kurden häufig die
verschleppten und später zwangsislamisierten Kinder und Frauen am
Leben – meist um sie auszubeuten. Gendarmen, welche die
Deportationsmärsche begleiteten, verkauften junge Frauen an Kurden
oder in türkische Harems. Aus Kemah bezeugten Rot-Kreuz-Mitarbeiter,
dass die Deportierten am Ortseingang halten mussten und Türken kamen,
um sich Kinder zu holen. Es sei der “reine Sklavenmarkt” gewesen, nur
“dass nichts gezahlt wurde”.

Immerhin überlebten vor allem Kinder auf diese Weise den Genozid.

Dass die Jungtürken nicht mit jener rassistischen Radikalität und mit
der Rationalität des modernen Industriestaates mordeten, die den
Holocaust zu einem einzigartigen Verbrechen macht, ist aufgeklärten
türkischen Historikern wichtig. An der moralischen Bewertung ändert
es freilich nichts, denn viele Türken und Kurden profitierten vom
Genozid – ähnlich wie auch Deutsche vom Holocaust. Die Versteigerung
zurückgelassener Kleidung, etwa gebrauchter Kinderschuhe, erinnert
fatal an Auktionen im ausgebombten Hamburg, auf denen
Wohnungseinrichtungen deportierter Juden veräußert wurden.

Die Jungtürken hatten festgelegt, dass die Armenier bewegliche Habe
mit sich führen durften. Viele Christen versuchten daher, Häuser oder
Mobiliar zu verkaufen, und ihre Nachbarn nutzten die Notlage zur
großen Schnäppchenjagd. Die osmanische Zentralregierung, die
örtlichen Eliten und das einfache Volk lieferten sich einen
regelrechten Kampf um das Eigentum der Armenier, so der
Genozid-Experte Christian Gerlach.

Auf den Todesmärschen ging der Raub dann weiter. Garbis Hagopjan
berichtet, dass sein Zug von der Bevölkerung in den Dörfern, die sie
passierten, wie von Aasgeiern geplündert wurde. Vielfach
verstümmelten die Täter ihre Opfer, weil sie vermuteten, diese hätten
Gold oder Schmuck verschluckt oder in Körperöffnungen versteckt.

Über den Wert des entwendeten armenischen Eigentums liegen nur
Schätzungen vor. Einer Angabe für die Versailler Friedenskonferenz
zufolge belief sich die Summe auf umgerechnet bis zu fünf Milliarden
Euro.

Eine Kollektivschulddebatte ist den Türken allerdings bis heute
erspart geblieben. Genozid-Experten wie der Bochumer Wissenschaftler
Mihran Dabag gehen jedoch davon aus, dass die Todesmärsche “nur
möglich waren angesichts einer hohen gesellschaftlichen Breite der
ausführenden und planenden Täter”. Für die Akzeptanz des Genozids
unter der türkischen Bevölkerung sprechen auch die jetzt von dem
ehemaligen SPIEGEL-Redakteur Wolfgang Gust herausgegebenen deutschen
Türkei-Akten aus dem Ersten Weltkrieg*.

Für Ankara sind sie eine besonders unangenehme Quelle, denn niemand
kann es als armenische Propaganda abtun, wenn beispielsweise der
deutsche Vizekonsul in Mossul, Walter Holstein, beobachtete, dass
Gendarmeriepatrouillen in Diyarbakir und Mardin die Bevölkerung
aufriefen, die Armenier umzubringen. An der ganzen Strecke südlich
Nusaibins, fährt Holstein fort, habe er “alle Muhamedaner mit krummen
Schwertern herumlaufen sehen. ‘Ermen’ (‘Armenier’) war ihr einziger
Gedanke”.

Weiter westlich wurde der Bagdad-Bahn-Beamte Spieker – ebenfalls ein
zuverlässiger Beobachter – Zeuge, wie “täglich Armenier von der
Civilbevölkerung umgebracht wurden, deren Leichname tagelang in
Abzugsgräben … liegen blieben”.

Auch Massenvergewaltigungen waren Teil des großen Leidenszugs. Ein
von deutschen Beamten als glaubwürdig eingeschätzter Armenier gab an,
dass unter den Frauen der in Aleppo eintreffenden Kolonnen etwa jede
vierte “von den sie begleitenden Gendarmen, von Kurden und Türken,
tags oder nachts mit Gewalt beiseite gezogen und vergewaltigt worden”
sei. Von einigen Deportationszügen ist bekannt, dass in so gut wie
jedem Dorf, das die Armenier passierten, Einwohner die Frauen
schändeten.

Mitleid und Zivilcourage von Kurden, Türken und Arabern sind freilich
ebenfalls zahlreich belegt. Viele Überlebende berichteten später,
dass Familien sie versteckten, obwohl es ungleich gefährlicher für
Muslime war, sich dem Genozid an den Christen zu widersetzen, als für
die Deutschen im “Dritten Reich”, einem Juden beizustehen. Wer half,
riskierte den Verlust des Hauses oder sein Leben. Talaat ließ sogar
Gouverneure oder Landräte umbringen, wenn sie Deportationsbefehle
nicht befolgten.

Von ihren Kindern mussten sich die Überlebenden später fragen lassen,
warum sie sich nicht gewehrt haben. Schließlich begleitete zumeist
nur eine Hand voll Gendarmen die Elendstrecks. Der Widerstand einiger
armenischer Dörfer, den der deutsche Schriftsteller Franz Werfel in
seinem Roman “Die vierzig Tage des Musa Dagh” beschrieb, war
jedenfalls die Ausnahme.

Hagopjan erinnert sich, dass die Menschen in seinem Zug “wie Lämmer”
gewesen seien – auf dem Weg zur Schlachtbank. Aber wohin hätten die
Familien mit Kindern, Alten, Kranken fliehen sollen, die unbewaffnet
und geschwächt durch Wüsten und Bergzüge stolperten, die sie nicht
kannten?

Ab Frühsommer 1915 gab es nur noch eine Macht, welche den Genozid
wohl hätte verhindern können: das Deutsche Reich.

Der wichtigste Bündnispartner des Osmanischen Imperiums hatte 1882
damit begonnen, Militärhilfe zu leisten und die Armee zu
modernisieren. Fast 800 Offiziere und mehrere tausend Soldaten
dienten während des Ersten Weltkriegs in der türkischen Armee. “Was
sie (die Türken) leisten, ist unser Werk, (sind) unsere Offiziere,
unsere Geschütze, unser Geld”, urteilte der Berliner Botschafter in
Konstantinopel, Paul Graf Wolff Metternich, “ohne unsere Hilfe fällt
der geblähte Frosch in sich selbst zusammen.”

Der Diplomat drängte denn auch die kaiserliche Regierung in Berlin,
dem Morden ein Ende zu setzen. Doch Wilhelm II. wollte keinen Ärger
mit dem Verbündeten. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg
schrieb auf Wolff Metternichs Eingabe: “Unser einziges Ziel ist, die
Türkei bis zum Ende des Kriegs an unserer Seite zu halten,
gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.”

Die türkischen Täter haben während des Kriegs und danach versucht,
den Deutschen die Hauptverantwortung zuzuschieben. Jungtürken
verbreiteten, dass die Deutschen “die Massakres wünschten”,
beobachteten Wolff Metternich und andere Diplomaten.

Einzelne Offiziere haben in der Tat der Deportation von Armeniern aus
dem Kriegsgebiet zugestimmt, einige Militärs begrüßten sogar den
Genozid. Das Vorgehen sei “hart, aber nützlich”, urteilte Hans
Humann, der deutsche Marineattaché in Konstantinopel und ein Freund
Envers.

Am schwersten wiegt, dass sich Offiziere – als Teil der osmanischen
Streitkräfte – am Morden beteiligten. Oberstleutnant Böttrich etwa
zeichnete als Chef der Eisenbahnabteilung im osmanischen
Generalhauptquartier mindestens einen Deportationsbefehl ab. Major
Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg kartätschte mit von
Deutschland gelieferten Feldhaubitzen das Armenierviertel von Urfa
zusammen.

Doch bislang liegt kein glaubwürdiger Beleg vor, dass die Führung des
Deutschen Reichs die Jungtürken drängte, in einer 2500 Kilometer
entfernten Region eine christliche Minderheit umzubringen. Und
antiarmenische Äußerungen und Ausdrücke des Mitgefühls in den
internen deutschen Papieren halten sich nach Ansicht von Experten
ungefähr die Waage.

Nach Kriegsende halfen Berliner Behörden allerdings zahlreichen
Jungtürken bei der Flucht vor den siegreichen Alliierten.
Innenminister Talaat – “die Seele der Armenierverfolgungen”
(Botschafter Wolff Metternich) – versteckte sich mitten in der
Reichshauptstadt. Der türkischen Schriftstellerin Edip Adivar
vertraute er an, er sei “bereit zu sterben für das, was ich getan
habe, und ich weiß, dass ich dafür sterben werde”. 1921 erschoss ihn
ein junger Armenier auf der Hardenbergstraße.

Dem Attentäter wurde der Prozess gemacht, zur allgemeinen
Überraschung sprach das Berliner Gericht den Angeklagten frei.

Im Verhandlungssaal saß damals ein Jurastudent jüdischer Herkunft
namens Robert Kempner und verfolgte aufmerksam das Geschehen. Kempner
schrieb später, in dem Verfahren sei zum ersten Mal der Grundsatz zur
Anwendung gekommen, dass “Völkermord durchaus von fremden Staaten
bekämpft werden könne und keine unzulässige Einmischung in die
inneren Angelegenheiten” sei.

Als die Nazis an die Macht kamen, musste Kempner in die USA
emigrieren. 1945 kehrte er zurück – als stellvertretender
Chefankläger der Amerikaner beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess.
KLAUS WIEGREFE

Flucht vor der Geschichte

Auch 90 Jahre nach dem Beginn des Völkermordes an den Armeniern
stellt sich die Türkei nicht ihrer blutigen Vergangenheit. Wer
öffentlich eingesteht, dass türkische Sonderkommandos zwischen 1915
und 1916 auf Befehl der Regierung mehr als eine Million Mitglieder
der christlichen Minderheit auf den Deportationsmärschen von
Anatolien in den Nahen Osten umbrachten, riskiert noch heute, vor
Gericht gezerrt zu werden, wie etwa der Schriftsteller Orhan Pamuk.
In der anatolischen Stadt Kayseri muss er sich wegen “grundloser
Vorwürfe gegen die türkische Identität, das türkische Militär und die
Türkei als Ganzes” verantworten, weil er dazu aufgerufen hat, das
Schweigen zu brechen. Das im Namen einer ethnisch homogenen Nation
begangene Verbrechen wird auch heute noch von rechten wie linken
Nationalisten kleingeredet. Die Vorwürfe des Völkermordes entbehrten
jeder Grundlage und verletzten “die Gefühle der türkischen Nation”,
klagte Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer. In der Geschichte der
Türkei gebe es kein Kapitel, “für das wir uns schämen müssten”,
meinte Ministerpräsident Tayyip Erdogan vorige Woche. Wo immer
derzeit an den Massenmord erinnert wird, versuchen türkische
Funktionäre, das Gedenken zu unterbinden. So intervenierte der
türkische Generalkonsul Aydin Durusoy beim brandenburgischen
Ministerpräsidenten Matthias Platzek, um einen Hinweis auf den
Völkermord in einem Lehrplan zu tilgen. Als die Berliner
CDU/CSU-Fraktion im Februar forderte, der Bundestag möge zum 24.
April, an dem 1915 der Massenmord begann, der armenischen Opfer
gedenken, protestierte der türkische Botschafter Mehmet Ali
Irtemcelik. Womöglich wird der Bundestag in dieser Woche über die
Verbrechen debattieren, über die Schuld der Verantwortlichen aber
nicht abstimmen. Eine Abstimmung wäre auch überflüssig: Historisch
ist die Schuldfrage längst geklärt.

GRAFIK: S. 130; Armenische Opfer eines Massakers (1915)
S. 131; Demonstration türkischer Nationalisten*; OSMAN ORSAL, AP
CORBIS
Überlebender Hagopjan in Paris; ROBERT KLUBA
S. 132; Deportation von Armeniern in Harput (1915); INFORMATIONS- U.
DOKUMENTATIONSZENTRUM ARMENIEN,; BERLIN
S. 134; Deportierte Armenier auf dem Todesmarsch in Syrien (1915);
ARMIN T. WEGNER, WALLSTEIN VERLAG; GÖTTINGEN
Minister Enver (1913); INTERFOTO
S. 136; Verhungernde Armenier; INFORMATIONS- UND
DOKUMENTATIONSZENTRUM ARMENIEN,; BERLIN
Innenminister Talaat (1918); AKG
S. 145; Köpfe hingerichteter Armenier, türkische; Offizielle
Völkermord-Denkmal in Eriwan (2003); DPA
S. 131; * Mit der Landesflagge als Protest gegen den EU-Beitritt der;
Türkei am 12. Dezember 2004 in Istanbul.; S. 136; * Wolfgang Gust:
“Der Völkermord an den Armeniern 1915/16.; Dokumente aus dem
Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen; Amtes”. Zu Klampen
Verlag, Springe; 676 Seiten; 39,80 Euro.

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Vasilian Manouk:
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