Armenische Schicksale in labyrinthischen Biographien

Frankfurter Allgemeine Zeitung
23. April 2005

Das aktuelle Buch;
Leben trotz Geschichte; Der Vernichtung entronnen: armenische
Schicksale in labyrinthischen Biographien

Das aktuelle Buch

Huberta von Voss (Hg.): Porträt einer Hoffnung. Die Armenier. Verlag
Hans Schiler, Berlin 2005, 415 Seiten, 28 Euro.

Vor neunzig Jahren, am 24. April 1915, ließ die osmanische Regierung
die in Istanbul lebende intellektuelle Führung der armenischen
Gemeinde verhaften. Am 20. April hatte es in der Stadt Van einen
armenischen Aufruhr gegeben. Die Festnahmen waren der Auftakt zu
jenen Armeniermassakern des Ersten Weltkrieges, die heute wieder
Anlaß geben zu Polemiken zwischen der Türkei und den Armeniern (mit
der Republik Armenien ebenso wie mit den Auslandsarmeniern der
Diaspora), aber auch mit jenen europäischen Regierungen, die der
Türkei vorhalten, sie müsse dieses dunkle Kapitel der Geschichte
endlich aufarbeiten. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel nannte
die Armeniermassaker einmal “den Holocaust vor dem Holocaust”,
während die offizielle Türkei von solchen Interpretationen der
Vorgänge nichts wissen will. Einzelne türkische Stimmen, die
abweichende Auffassungen ausdrücken, beginnen sich zu mehren. Das
Thema wird nicht von der Tagesordnung verschwinden, ganz im
Gegenteil; Türken wie Armenier müssen eines Tages damit beginnen,
jene Tragödie, deren Mitwisser und Dulder auch das kaiserliche
Deutschland war, anhand der Quellen gemeinsam aufzuarbeiten und zu
bewältigen.

“Porträt einer Hoffnung. Die Armenier” heißt ein Buch, das jetzt in
dem kleinen, doch ambitionierten Berliner Verlag Hans Schiler
erschienen ist. Schon sein Titel sagt, daß Türken und Armenier eines
Tages nur dann gutnachbarlich miteinander leben werden, wenn das
durch die Geschichte belastete Verhältnis Hoffnung auf einen
Neuanfang weckt. “Leben trotz Geschichte”, wie es der polnische
Philosoph Leszek Kolakowski formuliert hat. Die Herausgeberin Huberta
von Voss hat Armenienforscher wie Tessa Hoffmann, Vahakn N. Dadrian,
Taner Akçam und Wolfgang Gust für den einführenden, landeskundlichen
und historisch-systematischen Teil des Buches gewinnen können. Doch
den größten Teil des Textes bilden Biographien von Armeniern, die von
bekannten deutschsprachigen Korrespondenten und Schriftstellern
verfaßt worden sind; unter ihnen sind auch Mitarbeiter dieser
Zeitung, die auf armenische Spurensuche gingen: von Beirut nach
Jerusalem, von Istanbul nach Kairo, von Venedig nach Teheran, Madras,
New York, Moskau, Paris, Berlin, Eriwan und Karabach – bis zu dem
berühmten Musa Dagh und nach Südamerika reichen die biographischen
Recherchen der Autoren.

Die Zahl der Porträtierten (Historiker, Künstler, Diplomaten,
Schriftsteller, Wissenschaftler, Kleriker) ist zu groß, ihre
Schicksale sind zu vielfältig, als daß sie im einzelnen hier
Erwähnung finden könnten. Gemeinsam sind die traumatischen
Erfahrungen der Deportationen unter den Osmanen in kriegerischer
Zeit. Da viele der in dem Band vorgestellten Armenier schon älter
sind, können sie noch aus eigener Erfahrung sprechen, wie es war, als
die Eltern mit den Kindern fliehen mußten und mit knapper Not dem Tod
entrannen, der auf viele hunderttausend ihrer Leidensgenossen in den
Wüsten Mesopotamiens und Syriens wartete. “Sie riefen ihren Gott an,
als sie starben / Auf der Schwelle zur Kirche oder vor ihrer Haustür
/ Eine schwankende Wüstenherde, als Kohorte ziehend / Vernichtet von
Durst und Hunger, von Waffen und Feuer . . .” singt Varenagh
Aznavourian in einem seiner bekanntesten Chansons. Wir kennen ihn
alle besser als Charles Aznavour – den Chanson-König Frankreichs. Am
22. Mai 1924 wurde er in Paris geboren, als seine Eltern auf der
Flucht vor der Vernichtung schließlich in Frankreich angekommen
waren. Jene Armenier, denen es gelang, den Todesmärschen zu
entfliehen, landeten im Libanon, in Palästina (in Jerusalems Altstadt
gibt es ein Armenierviertel) oder eben in Europa und Amerika.
Geradezu labyrinthisch verschlungen lesen sich die Schicksale der
Davongekommenen, von denen viele es in der Diaspora zu respektablen
Stellungen gebracht haben, aber noch immer von den “Stimmen der
Ermordeten, Verhungerten und Verdursteten” heimgesucht werden. So wie
die Schauspielerin und Schriftstellerin Nouritza Matossian, die unter
dem Stichwort “Erinnerungsorte” ihren Besuch in Deir es Zor
schildert, jenem Schreckensort in der Wüste, wo viele ihres Volkes
umkamen, sofern sie nicht vorher schon erschlagen worden waren.

WOLFGANG GÜNTER LERCH