–Boundary_(ID_6Sr4DGzJEw7/PTNkuZYihQ)
Content-typ e: message/rfc822
From: “Katia M. Peltekian” <kpeltekian@yahoo.com>
Subject: Morgen vor 90 Jahren begann in der Turkei der Massenmord an den…
MIME-version: 1.0
Content-type: text/plain; charset=us-ascii
Content-transfer-encoding: 8BIT
taz, die tageszeitung
23. April 2005
Der lange Weg nach Westen;
Morgen vor 90 Jahren begann in der Türkei der Massenmord an den
Armeniern. Die meisten Türken wollen bis heute nicht wahrhaben, was
damals geschah. Warum?
von STEFAN REINECKE
Morgen vor 90 Jahren begann in der Türkei der Massenmord an den
Armeniern. Die meisten Türken wollen bis heute nicht wahrhaben, was
damals geschah. Warum?
Am 24. April 1915 wurden im Osmanischen Reich 2.345 armenische
Führungskräfte verhaftet. Es war ein Akt der Notwehr: Die
jungtürkische Regierung befand sich, an der Seite der Deutschen, im
Krieg gegen Briten und Russen – und die Armenier betätigten sich als
fünfte Kolonne. Sie massakrierten türkische Zivilisten und liefen zu
tausenden zum Feind über. Deshalb blieb den Jungtürken nicht anders
übrig, als die landesverräterischen Armenier zu deportieren. Es wurde
sorgsam darauf geachtet, dass ihnen dabei nichts Übles geschah, was
leider nicht immer gelang.
Das ist die türkische Version dessen, was am 24. April 1915 und
danach geschah, nachzulesen etwa auf der Website des
Kulturministeriums der Republik Türkei () Tatsächlich begann am 24.
April ein planmäßig durchgeführter Massenmord. Die Deportationen
waren Todesmärsche, die, so die Schätzungen der Historiker, zwischen
800.000 und 1,5 Millionen Armenier das Leben kosteten.
Dass es damals auch armenische Nationalisten gab, ist wahr. Doch
entscheidend für das Massaker war etwas anderes – die Ideologie der
Nation. Das multiethnische Osmanische Reich näherte sich 1915 nach
langem Siechtum der endgültigen Auflösung. Die Jungtürken, vor allem
der Planer des Massenmordes, Mehmet Talaat, waren beseelt von der
Idee, das antiquierte Sultanat durch einen modernen, europäischen
Staat zu beerben: einen säkularen Staat, in dem nur noch Türken leben
sollten. 1916 verkündete Talaat: “Die armenische Frage ist gelöst.”
Das ist Geschichte – aber nicht nur. Der Massenmord von 1915 ist ein
Politikum. Denn die Türkei möchte in die EU, die CDU/CSU will dies
verhindern. Vorgestern hat sie, unterstützt von Rot-Grün, im
Bundestag die türkische Haltung kritisiert. Es geht also um
Aktuelles. Soll die EU den Beitritt der Türkei von der Armenien-Frage
abhängig machen? Ist legitim, was die Union tut? Wie sollen sich
Linke, die für einen EU-Beitritt der Türkei sind, dazu verhalten?
Warum verteidigen türkische Offizielle so hartnäckig eine Position,
die jedem halbwegs klar denkenden Zeitgenossen als abenteuerliche
Verdrängung erscheint?
Der Jahrzehnte währende Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurde
als Demütigung verstanden. 1920 kam der Vertrag von Sèvres hinzu, in
dem die Westmächte das Territorium der Türkei extrem verkleinerten.
Atatürk mobilisierte gegen Sèvres einen “nationalen Befreiungskampf”
und etablierte so die moderne Türkei. Diese zur Heldensaga
stilisierte Entstehung des türkischen Staates ist bis heute mit der
Verdrängung der Verbrechen des jungtürkischen Regimes verkoppelt –
zumal manche Jungtürken auch unter Atatürk Karriere machten.
Fast 80 Prozent der Türken sind, laut einer Umfrage 2005, dafür, eher
auf den EU-Beitritt zu verzichten, als anzuerkennen, dass 1915 ein
Völkermord geschah. Man muss mit psychopathologischen Zuschreibungen
vorsichtig sein – aber das hartleibige Leugnen des Offenkundigen in
der Türkei hat solche Züge. Man kennt solche Verdrehungen aus der
US-Geschichte, in der den Ureinwohnern genau jene barbarischen Taten
angedichtet wurden, die die Weißen an ihnen begangen hatten. In
diesem Mechanismus, der der Schuldabwehr dient, fantasieren sich die
Täter als Opfer.
So spukt das Trauma vom Untergang des Osmanischen Reiches, von Chaos
und Bedeutungsverlust weiter – eingekapselt in der nationalen Legende
vom ruhmreichen, unbefleckten Kemalismus, die deshalb auf Biegen und
Brechen verteidigt werden muss. Wenn türkische Offizielle heute über
Armenien reden, klingt die Angst vor einem neuen Sèvres an. In ihrem
Blick wäre das Anerkennen des Genozids gegenüber Armenien das Anfang
vom Ende: Tut man dies, folgen Entschädigungsforderungen, folgen
Gebietsansprüche, folgt Großarmenien, folgt die Auflösung der Türkei.
Dass es in der Tat großarmenische Nationalisten gibt, stattet diesen
Blick mit dem Anschein von Plausibilität aus. Auch Paranoiker haben
Feinde.
Wie wichtig ist all dies für die EU? Reicht es nicht, wenn die Türkei
in halbwegs friedlicher Koexistenz mit Armenien lebt? Muss uns
kümmern, dass in türkischen Schulbüchern kein Wort über den
Massenmord steht? Ist das nicht eine Art Gedenkimperialismus?
Keineswegs. Auch die EU hat in dieser Frage etwas zu verteidigen. Sie
ist das Produkt der Erfahrung des 1. und 2. Weltkrieges. Auch wenn
die EU faktisch aus Verhandlungen um Agrarsubventionen besteht – die
in 50 Jahren gewachsene Ächtung von Genoziden und ein reflektiertes
Verhältnis zu den Verbrechen der Vergangenheit gehören zu ihrer
zivilen Substanz. Dieses Bewusstsein ist eine wenn auch strapazierte
(Haider! Fini!) Klammer, die die EU zusammenhält.
Die EU muss – egal ob die Armenienfrage formal zu den
Aufnahmekriterien zählt oder nicht – der Türkei Druck machen. Sonst
droht sie ihr Selbstverständnis zu verraten. Die Armenienfrage ist
eine Art Seismograf, der anzeigt, ob die Türkei ihre abgedichtete
Gründungslegende in einen reflexiven Patriotismus verwandeln kann.
Nun sind in der Türkei durchaus Veränderungen feststellbar. Wer vom
Genozid 1915 redet, muss nach der Liberalisierung der einschlägigen
Paragrafen im Strafgesetzbuch 2002 nicht mehr damit rechnen, ins
Gefängnis geworfen zu werden. Die türkische Debatte ist offener
geworden – allerdings wird auch 2005 der Schriftsteller Orhan Pamuk
staatsanwaltlich verfolgt, weil er vom Genozid 1915 spricht.
Manche meinen, dass die EU das zarte Pflänzchen der Aufklärung nun
nicht zertrampeln dürfe. Dies wäre eine nötige Mahnung, wenn es dafür
einen Anlass gäbe. Der fehlt. In der Bundestagsdebatte vorgestern
beugte sich eine ganz große Koalition von CDU bis Grünen eher
pädagogisch besorgt über den Patienten und fragte, ob er die Medizin
wohl verkraftet. Dafür gibt es auch gute Gründe. Denn die EU verlangt
von der Türkei sehr viel – den Abschied von ihrem nationalen
Selbstbild.
Was hilft, ist nur die Selbstaufklärung der türkischen Gesellschaft.
Diesen Prozess kann man nicht von außen oktroyieren, aber wohl
befördern. Und zwar mit eindeutiger Kritik an den
Geschichtsklitterungen, die die türkische Seite keineswegs verschämt,
sondern ziemlich raffiniert zu platzieren versteht. Dass diese Kritik
frei von moralischem Triumphalismus sein muss – am deutschen
Gedenkwesen soll die Türkei genesen -, versteht sich von selbst.
Deshalb sollten auch Linke, die für den EU-Beitritt der Türkei sind,
sich nicht davon irritieren lassen, dass sie hier mit der CDU/CSU an
einem Strang ziehen. Die Linke hat ausreichend üble Erfahrungen damit
gemacht, Wahrheiten unter den Tisch fallen zu lassen, nur weil sie
dem politischen Gegner dient. Zu kritisieren ist die Union nicht,
weil sie den Massenmord von 1915 thematisiert. Kritik verdient die
Union, falls sie bei ihrem Fundi-Nein auch bleibt, wenn sich die
Türkei in drei, fünf oder fünfzehn Jahren aus dem Gespinst ihrer
nationalen Sagen befreit hat.
__________________________________________________
Do You Yahoo!?
Tired of spam? Yahoo! Mail has the best spam protection around
–Boundary_(ID_6Sr4DGzJEw7/PTNkuZYihQ)–