taz, die tageszeitung
23. April 2005
Vom Überleben;
DIE ARMENISCHE DIASPORA
von SABINE BERKING
Armenien – “brüllender Steine Staat”, wie Ossip Mandelstam schon 1921
schrieb – ist in diesem Buch weniger ein Land als vielmehr eine
Landschaft des Erinnerns, zersplittert und zusammengehalten von
Gewalt und Vertreibung und durch eine von jeher “reisende” Kultur.
Huberta von Voss macht diese Kultur erfahrbar, indem sie ihre
Angehörigen, die in der ganzen Welt verstreut sind, porträtiert.
Zum Beispiel Madame Anahit. Sie gehörte zur Minderheit in der
Minderheit, eine Bohemien, die in den Straßen Istanbuls ihr Akkordeon
spielte, eine Großstadtlegende. Wie Mesrop II., Patriarch der
Armenier in der Türkei, oder Hrant Dink, Herausgeber der armenischen
Zeitung Agos in Istanbul, war sie zeitlebens eine Brücke zur
Aussöhnung. Gerade jene, die in der Höhle des Löwen leben, stehen dem
Beharren auf Schuldanerkennung durch die Türkei skeptisch gegenüber.
Welten trennen sie – auch darin – von der westlichen Diaspora in Los
Angeles oder Paris, deren Angehörige in akademischen Archiven und
Vorstadtvillen den Völkermord erforschen und dabei immer öfter mit
der armenischen Sprache ringen müssen. Welten trennen sie aber auch
von den im heutigen Armenien Lebenden, wo Korruption und Armut
herrschen. Zwischen Jerewan und Paris, Los Angeles, New York, Buenos
Aires, Kalkutta, Istanbul und Berlin spannt sich die
Erinnerungslandschaft. Beirut ist ein Zentrum der Diaspora, Jerusalem
war eines, bis die Armenier für Israel zu christlichen Palästinensern
mutierten und sich das armenische Viertel der heiligen Stadt zu
leeren begann. Heute ist es ein Spielball von
Grundstücksspekulationen, in dem eine armenische Restgemeinde ums
Überleben kämpft.
Huberta von Voss entwirft zusammen mit gut zwei Dutzend Autoren ein
Panorama der Armenier heute, das vor allem eines der Diaspora ist.
Manchmal wäre weniger mehr gewesen, dennoch beeindrucken die
Geschichten und der historische Einleitungsteil, der die deutsche
Mitverantwortung für den Genozid nicht ausspart. Kein Buch über den
Mord, sondern eines vom Überleben. Überlebt haben zum Beispiel Bücher
der ersten christlichen Nation in der Bibliothek des
armenisch-katholischen Klosters von San Lazzaro, seit 1717 malerisch
auf einer winzigen Insel vor Venedig gelegen. 150.000 Bände und 4.500
Manuskripten liegen hier im Dornröschenschlaf. 1816 klopfte Byron ans
Klostertor, verliebte sich in den Ort und lernte Armenisch, um dessen
Dichtung ins Englische zu übertragen. Die Vorfahren Armen
Petrossians, dem Inhaber des gleichnamigen Kaviar-Imperiums,
übersetzten auf andere Weise: Mit tausenden russischen Aristokraten
waren sie vor den Bolschewiki nach Paris geflohen. Den heimwehkranken
reichen Russen beschafften sie alsbald die edlen Fischeier und wurden
selbst reich damit. Alfred und Ophelia Mouradian, ein
deutsch-armenisches Paar, retteten im Zweiten Weltkrieg Hunderten von
sowjetarmenischen Kriegsgefangenen das Leben. 40.000 bildeten eine
armenische Legion innerhalb der Wehrmacht. Nach dem Krieg gingen
viele gen Westen, die Heimkehrer verschwanden in Stalins Lagern.
Die Nachgeborenen des Genozids stellen sich, wie die Londoner
Schauspielerin Matossian mit ihrer Reise ins syrische Deir-es-Sor,
dem Endpunkt der Todesmärsche von 1915, nicht nur dem Grauen des
Erinnerns, sie suchen auch nach Hoffnungszeichen. Es gibt sie
durchaus. Der Film “Ararat” des kanadischen Regisseurs Egoyan wurde –
wenn auch zensiert – in der Türkei gezeigt, ein türkisches
Streichquartett führte in Jerewan die Werke Komitas auf, der einst im
Pariser Exil an der Erinnerung an das Morden zerbrochen war. Und auf
dem Musa Dagh, jenem durch Franz Werfels Roman bekannten Berg, leben
in der heutigen Türkei wieder Armenier.
Huberta von Voss: “Porträt einer Hoffnung: Die Armenier. Lebensbilder
aus aller Welt”. Verlag Hans Schiler, Berlin 2005, 400 Seiten, 28
Euro