SPIEGEL ONLINE – 24. April 2005, 09:41
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Türkei
Eine Welt von Feinden
Von Bernhard Zand
Die Armenier begehen den 90. Jahrestag des Völkermordes von 1915, doch
Ankara denkt nicht daran, das Jahrhundertverbrechen anzuerkennen. Das
Wort führt eine alternde Garde chauvinistischer Bürokraten, die in
den Tätern von einst ihre Ahnen verteidigt.
AFP
Völkermord in Armenien: Viele sehen in den Tätern von damals ihre
Väter
Der Typhus, die Russen, der Imperialismus an sich und Kaiser Wilhelm II.
im fernen Berlin – viele waren schuld am massenhaften Tod der
anatolischen Armenier, wenn es nach der offiziellen türkischen
Geschichtsschreibung geht. Nur die Osmanen nicht, die Urgroßväter
der Türken, die heute an der Schwelle zur Europäischen Union stehen.
Der 90. Jahrestag des beginnenden Völkermords, den Armenier in aller
Welt an diesem Sonntag begehen, dürfte einer der letzten sein, an dem
noch greise Überlebende des Jahrhundertverbrechens teilnehmen
können. Nie war der internationale Druck auf die Türkei stärker,
sich ihrer Geschichte zu stellen – und nie Ankaras bürokratische Elite
entschlossener, ihre hergebrachten Rechtfertigungsmythen zu verteidigen
und jeden Kritiker zum Vaterlandsverräter zu stempeln.
Die Behauptung eines Völkermordes an den Armeniern sei “kategorisch
unakzeptabel”, formulierte Yüksel Söylemez, der Vorsitzende einer
Gruppe ehemaliger türkischer Botschafter, die sich der internationalen
Verbreitung des offiziösen Geschichtsbildes verschrieben hat. Die
Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage und verletzten “die Gefühle der
türkischen Nation”, sagte Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer. Es sei
“falsch und ungerecht von unseren europäischen Freunden, uns in dieser
Angelegenheit unter Druck zu setzen”.
AP/ Armenian National Archives
Opfer des Massakers von 1915: Schwierige Aufklärung der historischen
Wahrheit
Zumindest eines der Argumente der modernen Apologeten erinnert dabei
deutlich an die Motivlage, die seinerzeit auch hinter dem Befehl zur
Deportation der armenischen Bevölkerung stand: Die Führung des
untergehenden Osmanischen Reiches sah sich im Frühjahr 1915 von einer
Welt von Feinden umstellt und konstruierte daraus einen Fall von
Staatsnotwehr – nicht anders mancher heutige Verteidiger der Türkei:
Die Kurden, die Armenier, Griechenland, Europa, selbst die USA – innen
wie außen habe das Land nichts als Gegner. “Vom ersten Tag ihrer
Existenz an”, so Sinan Aygün, Chef der Handelskammer Ankara, sei die
Türkei “das Ziel von Versuchen gewesen, sie zu erschüttern und zu
zerstören”.
Daß Ankara als EU-Kandidat auf diesem Niveau nicht mehr lange wird
argumentieren können, dämmert Vertretern der türkischen Regierung
erst allmählich.
Konfrontiert mit immer neuen Armenien-Resolutionen vor europäischen
Parlamenten – zuletzt dem Antrag der CDU-Bundestagsfraktion, der diese
Woche diskutiert wurde und im Juni verabschiedet werden soll -, wächst
bei manchen die Einsicht, daß Ankaras bisherige Haltung am Ende
womöglich die türkische EU-Mitgliedschaft gefährdet. Obwohl die
Anerkennung des Völkermordes kein formales Aufnahmekritierium ist,
haben sich Politiker wie der französische Außenminister Michel
Barnier deutlich in dieser Richtung geäußert: “Zu gegebener Zeit
muss die Türkei sich der Erinnerung an diese Tragödie stellen, die
hunderttausende Armenier betraf. Wir haben zehn Jahre Zeit.”
Erdogan: “Wir stellen uns unserer Geschichte”
In einem Versuch, dem anläßlich des 90. Jahrestages zu erwartenden
Druck aus Europa zu begegnen, hatten sich Premierminister Recep Tayyip
Erdogan und Oppositionsführer Deniz Baykal bereits Anfang März auf
ein gemeinsames Vorgehen geeinigt: Die Türkei sei bereit, so Erdogan,
sich in der Armenierfrage “ihrer Geschichte zu stellen”. Die
Staatsarchive in Ankara und Istanbul stünden jedermann offen; auch
könne man sich vorstellen, eine unabhängige Instanz, etwa die
Unesco, in den Prozeß der historischen Wahrheitsfindung einzubinden.
AFP
Abgetrennte Köpfe von Armeniern: Warum tut sich die moderne Türkei
so schwer mit der Vergangenheit?
Ausgegangen war die Initiative von zwei Abgeordneten der oppositionellen
“Republikanischen Volkspartei”, den ehemaligen Botschaftern Onur Öymen
und Sükrü Elekdagi. Genau darin liegt womöglich ein Geburtsfehler
der Aktion, denn beide gelten als ausgesprochene Hardliner in der
Armenierfrage. Ihr Ziel ist nachzuweisen, daß die Deportationen und
Massaker während des Ersten Weltkriegs keineswegs einem Völkermord
gleichkamen, daß die Zahl der Opfer wesentlich geringer war als von
der armenischen Seite behauptet, ja daß umgekehrt Anatoliens Muslime
die eigentlich Leidtragenden der tragischen Ereignisse waren.
Kronzeuge Atatürk
Warum tut sich die moderne Türkei so schwer mit diesem Teil ihrer
Vergangenheit? Die Verbrechen des Jahres 1915 sind von der damaligen
Regierung des Osmanischen Reiches begangen worden – einer Regierung, von
deren führenden Mitgliedern sich Mustafa Kemal, der Gründer und
Säulenheilige der türkischen Republik, deutlich distanziert hat.
Nicht nur brach Kemal, später Atatürk genannt, mit allen äußeren
Traditionen der Osmanenzeit, indem er das Sultanat, das Kalifat und die
Scharia abschaffte, die lateinische Schrift, ein europäisches
Rechtssystem und den christlichen Sonntag als wöchentlichen Feiertag
einführte – er hatte auch zu den drei jungtürkischen Führern des
Osmanischen Reiches Talaat, Cemal und Enver Pascha, ein höchst
gespanntes Verhältnis. Keinen der drei, die als die
Hauptveratwortlichen der Deportationen gelten, wollte er nach Kriegsende
in den Reihen der türkischen Nationalbewegung sehen; vor allem Envers
pantürkische Expansionspläne hielt er für gefährliches,
selbstmörderisches Abenteurertum.
AFP
Türkische Soldaten, gehängte Armenier: Heute hätten Atatürk
seine Äußerungen wohl hinter Gitter gebracht
Zweifellos reüssierten auch Mittäter der osmanischen
Kriegsverbrechen in der 1923 gegründeten Republik – doch Atatürk
selbst hat sich zu diesen Verbrechen in einer Offenheit geäußert,
die ihn in der heutigen Türkei womöglich hinter Gitter brächte.
1920 verurteilte er vor dem Parlament den Völkermord an den Armeniern
als “eine Schandtat der Vergangenheit”; in einem Gespräch mit einem
amerikanischen Diplomaten nannte er die Zahl von 800000 ermordeten
Armeniern und sprach sich für eine harte Bestrafung der Täter aus.
Wiederholt haben Vertreter Armeniens der türkischen Regierung
angeboten, sich zumindest auf dem Boden jener historischen Tatsachen zu
treffen, die bereits der Kronzeuge Atatürk anerkannte. Vergeblich. Als
sich der Istanbuler Historiker Halil Berktay Anfang April in ähnlicher
Weise äußerte, geriet er in den Strudel derselben Beschuldigungen,
die auch der Schriftsteller Orhan Pamuk auf sich zog. Inzwischen lehnt
Berktay es ab, weitere Stellungnahmen zur Armenierfrage abzugeben.
Historiker wie Berktay seien ungeeignet, zur Aufklärung der
historischen Wahrheit beizutragen, behauptet Onur Öymen, Anfang der
neunziger Jahre Botschafter in Deutschland, heute stellvertretender
Oppositionschef und einer der beiden Initiatoren der türkischen
Parlamentsoffensive. Sie unterlägen den von einer “armenischen
Propagandamaschinerie” verbreiteten Vorurteilen. Glaubwürdig sei
hingegen der US-Geschichtswissenschaftler Justin McCarthy, der im März
vor der Türkischen Nationalversammlung und danach vor einer Runde
Wissenschaftler und ausländischer Diplomaten sprach.
DER SPIEGEL
Was McCarthy erzählte, stieß auf Skepsis bei den Diplomaten, doch
auf jubelnde Zustimmung seiner türkischen Zuhörer. Schon die
Opferzahlen (1,5 Millionen) der armenischen Seite beruhe auf
gefälschten Bevölkerungszahlen: Nur 1,1 Millionen Menschen hätten
überhaupt in den von den Deportationen betroffenen Ostprovinzen des
Osmanischen Reiches gelebt; von diesen seien etwa 40 Prozent ums Leben
gekommen, und von diesen wiederum seien 80 Prozent eines natürlichen
Todes gestorben.
Die Türken, so der im amerikanischen Louisville lehrende Professor,
ein bislang weitgehend Unbekannter seiner Zunft, kämpften einen
schweren Kampf: “Sie kämpfen gegen Vorurteile, und Ihre Opponenten
sind politisch stark, doch die Wahrheit ist auf Ihrer Seite.”
Türkische Armenier: “Resolutionen helfen nicht”
“Würden Sie ein Verbrechen Ihres Großvaters zugeben, wenn dieses
Verbrechen in Wirklichkeit nie stattgefunden hat?” fragt Botschafter
Öymen. Genau in dieser Frage liege das Problem, sagt Hirant Dink,
Herausgeber und Chefredakteur der armenischen Istanbuler Wochenzeitung
“Agos”. Die bürokratische Elite der Republik Türkei habe sich nie
wirklich von der osmanischen Tradition gelöst, sie sähe in den
Tätern von einst bis heute ihre Väter, deren Ehre sie verteidige.
Diese Tradition stifte Identität unter den türkischen Nationalisten
links wie rechts, sie werde von Generation zu Generation weitergegeben
durch das staatliche Erziehungssystem – und sie brauche stets einen
Gegenpol, an dem sie sich definieren könne. In diese Rolle habe man
seit den Tagen des Osmanischen Reiches die religiösen Minderheiten
gedrängt. Anfang April war Dink zusammen mit anderen Vertretern der
etwa 60000 Mitglieder zählenden armenischen Minderheit im
EU-Ausschuß des türkischen Parlaments geladen. Was er dort vortrug,
war ein leidenschaftlicher Aufruf zur Versöhnung – und ein scharfes
Wort in Richtung der deutschen Opposition: “Frau Merkel bringt diesen
Vorgang nicht vor das deutsche Parlament, weil ihr die schwarzen
Augenbrauen der Armenier so gut gefallen. Sie spielt diese Karte, weil
sie gegen den EU-Beitritt der Türkei ist.”
Auch der türkisch-armenische Publizist und Soziologe Etyen Mahcupyan
ist für eine Abrüstung im Krieg der Worte. Was immer die historische
Wahrheit sei: “Der Begriff Völkermord nützt nur den Extremisten. Ich
hätte nichts dagegen, wenn wir auf dieses Wort verzichteten.” Selten
in den vergangenen Jahrzehnten, sagt Hirant Dink, habe es so gute
Chancen auf eine Verbesserung des türkisch-armenischen Verhältnisses
gegeben wie heute. Die Regierung Erdogan, die aus dem islamischen
Spektrum kommt, sei spürbar weniger vom nationalistischen Geist der
türkischen Bürokratie durchdrungen als ihre Vorgängerinnen. Diesen
Umstand solle Europa nutzen.
Gerade Deutschland, das als ehemaliger Verbündeter des Osmanischen
Reiches seinen Anteil an der Tragödie habe, täte gut daran, keine
Resolutionen zu schreiben, sondern konkrete Vorschläge zu machen:
“Warum fordern die Deutschen Eriwan nicht auf, den alten Atomreaktor in
Metsarot sicherer zu machen oder macht Druck auf Ankara, die
Grenzübergänge nach Armenien wieder zu öffnen?” Berlin könne
wirtschaftlich helfen, diplomatisch und indem es die Gemäßigten
unterstütze, die es auf beiden Seiten gäbe, so Dink. “Wahrlich, die
Möglichkeiten sind endlos.”
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