Türkei und Armenien
Schwierige Annäherung
Von Rainer Hermann, Istanbul
FAZ.net
24. April 2005 Hinter den Kulissen tut sich etwas. Vorsichtig bringen
die türkischen Medien die Annäherung zwischen der Türkei und Armenien
der Öffentlichkeit näher. In ¥geheimen Treffen¡ hätten sich die beiden
Außenminister Gül und Oskanyan auf ein ebenso ¥geheimes Paket¡ von zehn
vertrauensbildenden Schritten verständigt, enthüllte die türkische
Tageszeitung ¥Milliyet¡.
Photo: Am Mahnmal in Eriwan: Erinnerung an den Massenmord im April 1915
Gül will den Bericht von ¥Milliyet¡ weder bestätigen noch dementieren.
Sybillinisch spricht er nur davon, daß er schon sechs Mal den
armenischen Außenminister Oskanyan getroffen habe. ¥Geheim¡ waren die
Treffen nur für diejenigen, die vor ihnen ihre Augen verschlossen haben.
Meist fanden sie in aller Öffentlichkeit statt. Aber weder in Ankara
noch in Eriwan, sondern in Drittstaaten im Rahmen der OSZE oder der
Nato.
Die Grenze bleibt geschlossen
Gül versichert, in der Türkei gebe es keine Feindschaft gegenüber
Armenien. In den vergangenen Jahren seien Flugverbindungen von Istanbul
und Antalya nach Eriwan eingerichtet worden, in der Türkei arbeiteten
40.000 Bürger aus der Republik Armenien, und die Türkei wolle ihren
Beitrag zur Lösung der Wirtschaftskrise Armeniens leisten. Die Grenze
zwischen den beiden Nachbarn ist aber weiter geschlossen. Diplomatische
Beziehungen haben sie bis heute nicht aufgenommen, obwohl die Türkei
1991 die neue Republik Armenien als einer der ersten Staaten anerkannt
hatte.
Auf mehr Flugverbindungen und eine Zusammenarbeit auf weiteren Gebieten
hätten sich die Außenminister verständigt, schreibt ¥Milliyet¡. Eine
Zusammenarbeit soll es zum Schutz von historischen Denkmälern geben und
bei Tourismusprojekten, zwischen wissenschaftlichen Instituten und
Organisationen der Zivilgesellschaft, zwischen Berufsverbänden und den
Parlamenten. Auch wolle man versuchen, auf beiden Seiten über die Medien
die Vorurteile abzubauen.
Zeugnisse verfallen
Besonders liegt den Armeniern der Schutz ihrer alten Kirchen und Klöster
in Anatolien am Herzen. Sie sind die letzten Zeugnisse einer großen
Kultur. Nur noch wenige armenische Christen leben im Osten Anatoliens.
Ihre Väter und Mütter hatten dort eine Hochkultur geschaffen und immer
wieder für kurze Zeit Königreiche gegründet. Das armenische Patriarchat
in Istanbul zählte 1914 in Anatolien noch 210 Klöster, mehr als 700
Klosterkirchen und 1639 Gemeindekirchen. Die meisten von ihnen gibt es
nicht mehr. Archäologen und Historiker aus aller Welt haben wiederholt,
die Türkei tue nichts, um diese Denkmäler, wie die Heiligkreuzkirche auf
der Insel Achtamar, zu retten. Sie unternehme nichts, um das letzte
sichtbare Zeugnis einer armenischen Präsenz auf dem Boden der heutigen
Türkei nicht verfallen zu lassen.
Bevor nun etwas geschehe, erwarte die Türkei von Armenien aber Gesten,
sagt Gül, ohne indessen konkret zu werden. Die Zeitung ¥Milliyet¡ will
wissen, daß es sich bei den Gesten um vier Punkte handelt, die Armenien
vor einer Unterzeichnung des Protokolls über die vertrauensbildenden
Maßnahmen erfüllen soll: Armenien solle Andeutungen in seiner Verfassung
auf territoriale Forderungen gegenüber der Türkei streichen, den
Grenzverlauf entsprechend des Vertrags von Kars 1921 zwischen der Türkei
und der Sowjetunion anerkennen, den Vorwurf des Völkermords nicht mehr
außenpolitische Priorität geben und sich aus den besetzten Gebieten
Aserbaidschans zurückziehen.
Schwierige Forderungen
Die schwierigste Forderung ist der Rückzug aus den besetzten Gebieten
Aserbaidschans, also aus Nagornyj Karabach und den Pufferzonen um diese
Bergregion. 1990 hatten Aseris aus der Enklave Nachitschewan Dörfer in
Armenien angegriffen. Von 1992 an überrannten aserbaidschanische
Einheiten Nagornyj Karabach und massakrierten dort die armenische
Bevölkerung. In zwei Jahren aber warfen militärisch unterlegene
armenische Milizen die hochgerüsteten aserbaidschanischen Verbände
zurück. Seither beklagt Aserbaidschan, daß es in einem Krieg, den es
selbst angezettelt hatte, Karabach verlor; erst Stalin hatte es
Aserbaidschan zugeschlagen.
Aserbaidschan hat aber viel Öl und ist daher, anders als Armenien, heute
reich. Einen Krieg zur Rückgewinnung von Nagornyj Karabach will es nicht
führen, um nicht die ausländischen Investoren zu verscheuchen und den
noch jungen Wohlstand aufs Spiel zu setzen. Also setzt Baku auf
politischen Druck, und der Hebel ist die Türkei. Aus Sympathie für das
türkische Brudervolk der Aserbaidschaner hatte die Türkei 1993 die
Grenze zu Armenien geschlossen. Es hat seitdem nur noch offene Grenzen
zu Georgien und zu Iran. Als vor einem Jahr die Regierung Erdogan kurz
vor der Öffnung der Grenze stand, reiste der aserbaidschanische
Staatspräsident Alijew eilends nach Ankara. Die Türkei solle nicht
leichtfertig die für August 2005 geplante Inbetriebnahme der Ölleitung
von Baku an den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan gefährden, drohte er.
Anerkennung des Genozids keine Vorbedingung
Aserbaidschan erwartet von der Türkei, daß sie ihre Beziehungen zu
Armenien erst normalisiert, nachdem Nagornyj Karabach wieder seinem
Staat einverleibt worden ist, und die Türkei ließ sich bereitwillig zur
Geisel von Alijews Regime machen. Außenminister Gül versicherte zu
Jahresbeginn dem Außenminister aus Baku, er brauche sich keine Sorgen
über eine Öffnung der Grenze zu machen, solange aserbaidschanischer
Boden besetzt sei. Das wiederholte am 30. März der türkische
Marinekommandant bei einem Besuch in Baku.
Weniger strittig sind die anderen Vorbedingungen für den Beginn einer
Normalisierung mit Armenien. Die armenische Führung, die 1998 an die
Macht gekommen war, hat in ihrer Außenpolitik zwar der Anerkennung des
Genozids durch die Türkei eine höhere Priorität gegeben. Die Anerkennung
wurde aber nie Bedingung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen –
selbst wenn es mächtige armenische Parteien, wie die nationalistische
Daschnaksutiun, wünschten. Zudem hat der armenische Außenminister
Oskanyan wiederholt versichert, für Armenien gelte als Nachfolgestaat
der Sowjetunion der Vertrag von Kars, der 1921 die Grenze zwischen
Armenien und der Türkei festgelegt habe. Bisher habe es keinen
armenischen Politiker gegeben, der diesen Vertrag in Frage gestellt
habe, sagt Oskanyan.
Die Bewertung der Ereignisse änderte sich
Heftiger gestaltet sich dagegen die Diskussion über mögliche armenische
Gebietsansprüche gegenüber der Türkei. Ilter Türkmen, Abgeordneter der
oppositionellen CHP und Architekt der türkischen Politik gegenüber
Armenien und in der Genoziddebatte, kann sich nicht vorstellen, daß das
kleine Armenien von der Türkei Gebietsabtretungen und
Entschädigungszahlungen verlangen könne. Alle Initiativen dazu
scheiterten schon daran, daß es keine Gerichte gebe, bei denen solche
Forderungen eingeklagt werden könnten, sagt Türkmen.
In Istanbul bedauern indessen Türkeiarmenier, daß mächtige Kreise der
Diaspora, insbesondere in der Umgebung der Daschnaksutiun, die
Aufarbeitung des Genozids durch die Türkei erschwerten, indem sie an
ihren territorialen und finanziellen Entschädigungsforderungen gegenüber
der Türkei festhielten. In der Türkei war über die Massaker an den
Armeniern bis 1945 als ¥Verbrechen an den Armeniern¡ offen diskutiert
worden. Am 21. März 1945 forderte Stalin aber die Abtretung der
ostanatolischen Provinzen Kars und Ardahan, und er begründete seine
Gebietsforderungen als Entschädigung für die Armeniermassaker von 1915.
Von da an bewertete die Türkei die Ereignisse des Jahres 1915 anders,
und sie wurde rasch Gründungmitglied der Nato.
¥Die vier T¡
Der türkische Sozialwissenschaftler Hikmet Özdemir veröffentlichte
jüngst eine britische Karte aus dem Ersten Weltkrieg. Sie soll zeigen,
daß London auf dem Boden der heutigen Türkei um Van und in Kilikien zwei
armenische Staaten vorgesehen hatte. Die orthodoxe türkische Linie faßt
der türkische Generalstab auf seiner Internetseite zusammen. Dort
unterstellen die Generäle den Armeniern, einem Plan zu folgen, den sie
auf Türkisch ¥die vier T¡ nennen. Dazu zählen sie die Anerkennung
(tanimak) des Genozids, Entschädigungszahlungen (tazminat) und
Gebietsforderungen (toprak).
Der türkeiarmenische Intellektuelle Hrant Dink sagt gerne, daß die
Armenier, die in aller Welt am 24. April auf den Straßen marschierten,
nur einmal im Jahr Armenier seien. ¥Wir aber sind es jeden Tag¡, sagt
der Herausgeber der in Istanbul erscheinenden armenischen Wochenzeitung
¥Agos¡. Mit seinen mutigen Auftritten in der Öffentlichkeit hat er
entscheidend zur Entspannung des Verhältnisses zwischen Türken und
Armeniern, aber auch zwischen der Türkei und Armenien beigetragen.
Solange Teile der armenischen Diaspora aber an Entschädigungs- und
Gebietsforderungen festhalten, liefern sie in der Türkei nur denen
billige Argumente in die Hand, die ein Schreckgespenst für den Fall an
die Wand malen, daß die Türkei von ihrer hartnäckigen Weigerung abrückt,
den Genozid anzuerkennen.
Todesmärsche und Massaker
Die Vertreibung der Armenier aus ihren Wohngebieten im Osmanischen Reich
begann am 24. April 1915. Rund 1,5 Millionen Menschen dieser Volksgruppe
kamen auf Todesmärschen und in Massakern um – etwa zwei Drittel der
Armenier im Osmanischen Reich. Der 24. April ist in der Republik
Armenien nationaler Trauertag.
Es ist nicht bewiesen, ob schon vor dem Ersten Weltkrieg von der Türkei
geplant war, sich der armenischen Volksgruppe physisch zu entledigen.
Allerdings wurden die Armenier von politischen Ideologen der
“Jungtürken” immer mehr als gefährlicher Fremdkörper angesehen, den es
auszumerzen gelte. Der historische Hintergrund des Völkermords sind der
Zusammenbruch der osmanischen Herrschaft fast im gesamten europäischen
Teil des Reiches und die politisch-militärische Rivalität mit dem
russischen Zarenreich, unter dessen Herrschaft ebenfalls ein Teil des
armenischen Volkes lebte, im Ersten Weltkrieg.
Rußland gebärdete sich als Schutzmacht der christlichen Armenier und
rief zur Kollaboration auf. In der Tat kämpfte eine kleine Minderheit
der Armenier aus dem Osmanischen Reich als Freiwillige auf russischer
Seite. Dafür wurde die gesamte armenische Volksgruppe haftbar gemacht
und deportiert, selbst aus strategisch unwichtigen Gebieten. Hinzu kam,
daß im Übergang vom Osmanischen Reich zum modernen türkischen Staat die
auch andernorts verbreitete Vorstellung ihre verheerende Wirkung
entfaltete, auf dem Boden der alten Vielvölkerreiche müßten ethnisch
homogene Nationalstaaten entstehen – notfalls auch durch
Zwangsumsiedlungen.
Begonnen hatte der Völkermord an den Armeniern schon im Januar 1915 vor
der Deportation der Zivilbevölkerung ab 24. April mit ersten Pogromen.
Bevor die Armenier in Elendszügen durch die Wüste nach Aleppo getrieben
wurden, wurden die gesunden Männer ausgesondert und umgebracht.
Türkische und kurdische Stämme überfielen immer wieder die
Marschkolonnen, um sich Frauen und Kinder zu greifen. Wer nicht
weiterkonnte, verendete am Straßenrand. Die rund 50.000 Menschen, die
diesen Marsch überlebten, wurden in syrische Konzentrationslager
gebracht. Deutschland, im Ersten Weltkrieg Verbündeter des Osmanischen
Reiches, hat die Verbrechen, obschon es davon wußte, nicht verhindert
und zählt bis heute nicht zu den Staaten, die die Massenmorde an den
Armeniern als Völkermord eingestuft haben. (M.L.)