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Volkermord und Reue

Der Tagesspiegel, Deutschland
24 April 2005

Völkermord und Reue

Verzeihung, aber…
Von Christoph von Marschall

Wie ein Riegel schiebt sich die Debatte um Schuld und Leid zwischen
Vergangenheit und Zukunft. 90 Jahre nach dem Völkermord an den
Armeniern will sich die Türkei ihrer Geschichte noch immer nicht
stellen; rabiat protestiert sie gegen das internationale Gedenken an
diesem Sonntag. Und 60 Jahre nach Ende des Weltkriegs bringt der
Streit um Totenehrung, Schulbücher und angemessene Entschuldigungen
Japaner und Chinesen gegeneinander auf.

Im Vergleich dazu mag das vertrauensvolle Verhältnis zwischen
Deutschland und seinen früheren Kriegsgegnern fast vorbildlich
wirken. Die Bundesrepublik hat das Schuldbekenntnis zur Staatsraison
erhoben, und die Opfer von damals haben das neue Deutschland in die
internationale Gemeinschaft zurückgeholt. Was aber nicht verhindert,
dass periodisch Streit aufbricht: um Entschädigung, Vertreibung,
Schuld und Sühne. Auch in zwei Wochen wird Europa gespalten sein,
freilich nach einem anderen Muster. Balten, Polen, Tschechen und
westliche Europaabgeordnete kritisieren das Gedenken an das
Kriegsende in Moskau – nicht weil erstmals ein Bundeskanzler dabei
ist, sondern weil Russland seine Verbrechen an den Völkern
Mitteleuropas leugnet. Für sie war der 9. Mai 1945 kein Tag der
Befreiung, das Kriegsende markiert den Übergang von der braunen zur
roten Besatzung, vom KZ zum Gulag.

Sind alle Versuche zur Bewältigung der Geschichte also vergeblich?
Fortschritte bei den einen Partnern ziehen neue Verwerfungen bei
anderen nach sich. Auch in der Türkei: Die Forderung nach
türkisch-armenischer Annäherung belastet nun das Versöhnungsprojekt
EU-Türkei. Wäre es nicht besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen,
auf die Zeit, die Wunden heilt, zu vertrauen und die Annäherung im
Alltag voranzutreiben, damit der wechselseitige Nutzen versöhnt:
Grenzöffnung zwischen Türkei und Armenien, mehr Handel zwischen China
und Japan? Und dürfen ausgerechnet die Deutschen als Lehrmeister
auftreten – wo sie doch 1915 Mitwisser des Armeniermords waren und
selbst den schlimmsten Völkermord verantworten?

Sie dürfen nicht nur, sie müssen sogar: jetzt, wo die gemeinsame
Zukunft in der EU zur Debatte steht. Die ist nicht möglich ohne ein
Minimum an Verständigung über die Vergangenheit – auch über die
Geschichtsbilder. Und darüber, was Schwäche und was Stärke eines
Staates, einer Gesellschaft ausmacht. EU-Europa hat aus den
Katastrophen des 20. Jahrhunderts die Lehre gezogen, dass die
Überhöhung des Nationalstaates gefährliche Feindbilder
heraufbeschwört und der selbstkritische Blick in den Spiegel der
Geschichte Frieden fördert. In der Türkei, in Russland, auch in Japan
und China dagegen werden Bekenntnisse von Fehlern und Schuld als
Schwäche empfunden, als Unterwerfung und Befleckung des
Nationalstolzes. Es fehlt die Erfahrung, dass tätige Reue befreien
und versöhnen kann – nicht nur Menschen, auch Staaten. Natürlich,
selbst dadurch lässt sich Vergangenheit nicht so „bewältigen`, dass
sie im Nationalarchiv ruht und folgende Generationen nicht mehr
behelligt. Doch Schuld zu ignorieren oder zu leugnen hilft auch nicht
weiter. Anerkennung durch die Nachbarn und gemeinsame Zukunft sind
nicht zu haben ohne den ehrlichen Blick zurück. Eine Minderheit in
der Türkei hat begonnen, sich mit dem Genozid an den Armeniern
auseinander zu setzen. Sie verdient alle Unterstützung.

Zargarian Hambik:
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