Das Tabu bricht nur langsam auf

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Berliner Zeitung 23.04.2005

Das Tabu bricht nur langsam auf

Warum die Türken die Armenier-Frage verdrängen

Günter Seufert

ANKARA, im April. Das Städtchen Sütüler liegt vergessen hinter den
Bergen der Ferienprovinz Antalya. Doch am 15. Februar 2005 geht es
hier um die Ehre des Vaterlands. In den Schulen durchstöbern Lehrer
die Büchereien nach Werken von Orhan Pamuk, und auch die
Stadtbibliothek wird auf den Kopf gestellt. Pamuks Bücher sind zu
vernichten, hat der Landrat einen Tag vorher angeordnet und damit der
Bevölkerung des Landkreises aus der Seele gesprochen. Pamuk, der heute
international bekannteste türkische Schriftsteller, hatte einer
Schweizer Zeitung gesagt, man habe im Ersten Weltkrieg eine Million
Armenier ermordet.

Als “Minderheiten-Rassist” bezeichnete der Landrat den Schriftsteller,
“gegen dessen Verleumdungen die türkische Nation jedes Recht zur
Selbstverteidigung hat”. Solche Töne gingen selbst dem türkischen
Bildungsminister zu weit, der erst vor zwei Jahren per Runderlass alle
Lehrer verpflichtete, die Schüler in Aufsätzen beweisen zu lassen,
dass von einem Völkermord der türkischen Osmanen an den Armeniern
keine Rede sein könnte.

Die Irenenkirche liegt neben der Hagia Sophia. Hier werden
Spitzenkonzerte gegeben, Musik als nationales Ereignis. Am 22. August
2005 wird das Kammerorchester Istanbul Werke türkischer und
armenischer Komponisten vortragen. Sie seien “Blumen aus ein und
demselben Garten”, erklärt das Kulturministerium, dasden Abend
fördert.

Noch vor zwei Jahren wäre keines der beiden Ereignisse möglich
gewesen.In Sachen Armenier verstießen damals nur wenige im Ausland
lebende Türken gegen die offizielle Sprachregelung. In der türkischen
Kulturpolitik kamen Armenier nicht vor. Heute beginnt das Tabu
aufzubrechen, entsprechend extrem fallen die Reaktionen aus. Die
Türken tun sich aus vielen Gründen mit der Geschichte schwer.

Da ist das Entsetzen darüber, durch den Begriff “Genozid” mit
Nazideutschland auf eine Stufe gestellt zu werden, und den Todesmarsch
der Armenier als “ersten Völkermord der Moderne” akzeptieren zu
sollen, gewissermaßen als Vorläufer und Wegbereiter zum Holocaust
. Einen vergleichbaren Vernichtungswillen, argumentiert man, habe es
bei den Osmanen nicht gegeben, ebenso wenig eine rassistische
Ideologie. Die Befürchtung, Ungleiches könne gleichgesetztwerden, wird
von Israel und der jüdischen Lobby in den USA geteilt, beide
unterstützen die Türkei seit Jahrzehnten in dieser Frage.

Auch extreme Forderungen armenischer Nationalisten erleichtern die
Sache nicht. Sie verlangen nicht nur Anerkennung und Entschädigung,
sondern auch die “Rückgabe armenischen Territoriums”.

Tatsächlich wären die Folgen eines türkischen Schuldeingeständnisses
dagegen wohl eher gering. Die UN-Völkermordkonvention von 1948 ist
Reaktion auf die Schrecken des Holocaust und als internationales
Rechtsdokument nicht auf Ereignisse vor ihrer Unterzeichnung
anwendbar. Den Mann auf der Straße beruhigt das freilich wenig. Er
nimmt das ausländische Drängen als Aggression und Feindseligkeit
wahr. Wer sich für Offenheit ausspricht, wie Orhan Pamuk, sieht sich
schnell isoliert. Die Forderung nach Schuldanerkennung trifft die
Menschen unvorbereitet – nach achtzig langen Jahren staatlicher
Propaganda, in der die türkische Nation nur als tapferste, ehrlichste
und aufrechteste auftauchte

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