Neue Zürcher Zeitung
Montag, 25. April 2005
Gedenken an die Tragödie der Armenier
(Memory of the tragedy of Armenians)
Hunderttausende an der Erinnerungsfeier in Erewan
Hunderttausende haben am Sonntag in der armenischen Hauptstadt Erewan
des neunzigsten Jahrestages der Vertreibung und Vernichtung von bis
zu anderthalb Millionen Armeniern in Anatolien gedacht. Der
armenische Staatspräsident erklärte sich zur Versöhnung bereit,
forderte aber die Anerkennung der Tragödie als Völkermord.
pfi. Moskau, 24. April
Mit einem Trauermarsch hinauf zum zentralen Mahnmal auf dem Hügel
Zizernakaberd haben am Sonntag Hunderttausende in- und ausländische
Armenier sowie Gäste aus der ganzen Welt in der armenischen
Hauptstadt Erewan des neunzigsten Jahrestags des Beginns dessen
gedacht, was sie als den ersten Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts
betrachten. Der Andrang der Personen, die an dem Mahnmal Blumen und
Kränze niederlegen wollten, war laut Beobachtern vor Ort derart
gross, dass der kurze Aufstieg Wartezeiten von bis zu vier Stunden
beanspruchte. Nebst einer Ansprache des armenischen Präsidenten
Kotscharjan krönte ein ökumenischer Gottesdienst die
Gedenkfeierlichkeiten. Im Zusammenhang mit den Wirren um die
Auflösung des Ottomanischen Reiches hatten um die vorletzte
Jahrhundertwende die nationalistische Bewegung der Jungtürken den
christlichen Armeniern Zusammenarbeit mit dem zaristischen Russland
und Verschwörung gegen die Türken vorgeworfen.
Nationale Traumata und Tabus
1915 markierte die Verhaftung und anschliessende Ermordung von
Hunderten von Mitgliedern der im türkischen Anatolien wohnhaften
armenischen Elite den Beginn einer planmässigen Vernichtungsaktion.
Dabei wurde praktisch die gesamte armenische Bevölkerung Anatoliens
vertrieben, wobei die «Zwangsumsiedlung» oft in den fast sicheren Tod
führte. Nach armenischen Angaben sollen anderthalb Millionen Armenier
der Vernichtungsaktion zum Opfer gefallen sein. Die Ereignisse wirken
für die Armenier als nationales Verfolgungstrauma nach, welches
bisher auch eine Einigung in der Berg-Karabach-Frage mit den zu den
Turkvölkern gehörenden Aserbeidschanern verhindert hat.
Ankara bestreitet bis heute das Ausmass der Vernichtung von Armeniern
und sieht in den von ihm tabuisierten Ereignissen offiziell das
bedauernswerte Resultat eines Bürgerkriegs. Armenien und die Türkei
unterhalten keine diplomatischen Beziehungen; im Zusammenhang mit dem
Krieg um Berg-Karabach hat die Türkei 1993 aus Solidarität mit
Aserbeidschan ihre Grenze zu Armenien geschlossen.
Kotscharjan im russischen Fernsehen
In einer Rede zum Gedenktag erklärte der armenische Präsident
Kotscharjan am Sonntag, sein Volk empfinde wegen der
unvergleichlichen Tragödie bis heute tiefe Bitterkeit, verspüre aber
keinen Hass gegen die Türkei. Sein Land sei bereit, mit dem
türkischen Nachbarn normale Beziehungen aufzunehmen, fordere aber die
Staatenwelt dazu auf, die damaligen Ereignisse offiziell als
Völkermord anzuerkennen. Bisher haben 15 Länder, darunter Russland,
die Ereignisse als Genozid verurteilt.
Ein Thema war der Gedenktag am Sonntag auch in Russland, wo eine
grosse Zahl von Armeniern lebt und arbeitet. In Moskau versammelten
sich über tausend Menschen zu einer Gedenkfeier. In einem längeren
Interview am Staatsfernsehen ortete der armenische Präsident am
Samstag drei historische Perioden des internationalen Umgangs mit dem
Genozid. Während unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die
Staatenwelt zu einer Verurteilung und Bestrafung der Täter angesetzt
habe, hätten die Eingliederung Armeniens in die Sowjetunion
einerseits und die strategische Allianz des Westens mit der Türkei
andererseits dafür gesorgt, dass die Anerkennung des Genozids
vorübergehend ein Opfer des Kalten Kriegs geworden sei. Dessen Ende
ermögliche nun eine faire Neubewertung der Ereignisse.