Süddeutsche Zeitung
25. April 2005
Stilles Gedenken an die Massaker;
Gebete für “Frieden und Versöhnung” / Türkische Zeitungen fordern
neuen Umgang mit eigener Geschichte
(Silent Memory of the Massacres: Prayers for Peace and Reconciliation
/ Turkish newspapers demand new approach to own history)
Von Christiane Schlötzer
Istanbul – Während in der armenischen Stadt Eriwan und rund um die
Welt am Sonntag Armenier an die Massenmorde im osmanischen Reich vor
90 Jahren mit Kranzniederlegungen, Demonstrationen, mit Reden und
Schweigeminuten erinnerten, gab es in der Türkei nur stille Gebete
für die Getöteten. Die türkischen Armenier – etwa 65 000 – gedachten
in Gottesdiensten der Ermordeten. “Wir beten für Frieden und
Versöhnung” hatte der armenische Patriarch Mesrob II. schon zuvor
angekündigt. Die armenischen Kirchen in Istanbul waren aber, auch
wenn die Gemeinde bewusst kein Aufsehen erregen wollte, deutlich
voller als sonst.
In Eriwan dagegen gingen Zehntausende auf die Straße. Ihr Ziel war
das auf einem Hügel gelegene Monument für die Toten, an dem Tulpen,
Nelken und Narzissen niedergelegt wurden. Von der Spitze des Hügels
kann man den Berg Ararat in der Osttürkei sehen, der als heiliger Ort
der Armenier gilt. In den Ostprovinzen des Osmanischen Reiches lebten
einst hundertausende Armenier. Die Vertreibungen begannen mit der
Verhaftung von armenischen Intellektuellen in Istanbul am 24. April,
weshalb das Datum weltweit von Armeniern traditionell als Gedenktag
begangen wird.
Neue Aufmerksamkeit
So viel Beachtung wie in diesem Jahr hat die armenische Forderung,
die Geschehnisse vor 90 Jahren als Völkermord anzuerkennen, aber noch
nie erhalten. Armeniens Präsident Robert Kotscharian unterstrich am
Sonntag noch einmal in Eriwan, sein Land wolle die “die
internationale Anerkennung und Verurteilung des Genozids” erreichen.
Aber Armenien sei auch bereit, “normale Beziehungen mit der Türkei
aufzubauen”. Die Türkei überrasche mit ihrer Haltung aber nicht nur
Armenien, sondern auch den Rest der Welt. Die Türkei, die der
Europäischen Union betreten möchte, und Armenien unterhalten keine
diplomatischen Beziehungen.
Die türkische Regierung hatte vor dem Sonntag versucht, eine Aufsehen
erregende Gegenkampagne gegen die Genozid-Vorwürfe zu starten. Am
vergangenen Freitag wiederholte der türkische Außenminister Abdullah
Gül noch einmal vor ausländischen Journalisten in Istanbul die
inzwischen in der Türkei von offiziellen Stellen häufig verbreitete
Formel, es habe in den Kriegswirren in den Jahren 1915/16 “Tote auf
beiden Seiten gegeben”. Gül nahm gar die kurz zuvor von
Generalstabschef Hilmi Özkök geäußerte Behauptung auf, die Armenier
seien von den kriegführenden Osmanen, um Racheakte zu verhindern, “in
eine sicherere Region” gebracht worden.
Dass diese Abwehrhaltung auch in der Türkei über nationalistische
Kreise hinaus immer weniger geglaubt wird, zeigten überraschend
emotionale Zeitungskolumnen am Sonntag. So kritisierte der Autor Can
Dündar in der türkischen Zeitung Milliyet, die Wiederholung der immer
gleichen Argumente, “die wir auswendig kennen, das bringt uns
nirgendwohin”. Dündar bedauerte, dass es an der türkisch-armenischen
Grenze kein gemeinsames Denkmal für die Toten gebe und dass “die
Zeitungen in der Türkei heute nicht mit der Überschrift erschienen
sind: Ihr Schmerz ist unser Schmerz”. Im Massenblatt Hürriyet stellte
Autor Murat Bardakci fest, dass kein türkischer Historiker armenisch
spreche und zudem die Geschichtsexperten des Landes schon lange kein
Werk mehr vorgelegt hätten, das international akzeptiert worden sei.
Zuflucht Religion
Das Blatt Sabah ließ den Istanbul-Armenier Vaskän Barin zu Wort
kommen, einen Architekten, der für die Stadtverwaltung arbeitet. Er
erzählte, dass seine Großeltern im Jahr 1915, “um sich zu schützen”,
Muslime geworden seien. Später hätten sie ihre Identität wieder
zurückerlangt. Noch vor kurzem hätte kaum ein Medium in der Türkei
eine solche Geschichte gedruckt. Barin nannte die armenische
Gemeinschaft in der Türkei “introvertiert”. Das zurückgezogene Leben
gilt als ein Schutz.
Die staatliche türkische Musikgesellschaft hatte am Vorabend des
Gedenktages in Istanbul zu einem Konzert geladen. Gespielt wurden
Musikstücke türkischer und armenischer Komponisten. In dem
Veranstaltungssaal, dem byzantischen Kirchenbau Aya Irini, waren alle
Plätze belegt.
Am Sonntag Abend war in Washington auch die traditionelle Rede von
US-Präsident George W. Bush zu dem Gedenktag erwartet worden.
Frankreichs Präsident Jacques Chirac hat schon am Freitag abend
gemeinsam mit Kotscharian in Paris an einem Monument für die Toten
einen Kranz niedergelegt.
Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen hat die
Gräueltaten an den Armeniern als Völkermord gewertet. Mindestens 15
Staaten schlossen sich dem Urteil an, darunter auch Frankreich.
Deutschland vertritt bislang eine zurückhaltendere Linie.