Taz, die tageszeitung
28. April 2005
Gefährliche Verdrängung;
Die türkische Gesellschaft weigert sich standhaft, die Verbrechen an
den Armeniern anzuerkennen. Auf die Türken in Deutschland hat das
katastrophale Auswirkungen
von ZAFER SENOCAK
Die türkische Gesellschaft weigert sich standhaft, die Verbrechen an
den Armeniern anzuerkennen. Auf die Türken in Deutschland hat das
katastrophale Auswirkungen
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Deutschen nicht nur vor den
Trümmern ihres zerstückelten Landes. Sie standen auch angesichts der
Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft vor dem moralischen
Ruin sowie vor einer Schuldfrage, die nach einer relativ kurzen Phase
der Verdrängung zu einer beispiellosen historischen Aufarbeitung
geführt hat.
Was aber passiert, wenn sich statt einer Erinnerungskultur eine
Kultur des Verdrängens und Verleugnens etabliert? Wie können sich
zwei Gesellschaften, die eine in der Kultur der Erinnerung zu Hause,
die andere aber in der Kultur der Verdrängung, miteinander
verständigen?
Der gegenwärtige Streit um die armenischen Opfer türkischer
Vertreibung und Vernichtung aus dem Jahr 1915 verdeutlicht die
Unmöglichkeit einer solchen Verständigung. Viele türkische
Persönlichkeiten und Verbände in Deutschland reagieren auf den
Völkermordvorwurf nach alten Mustern der Verdrängung. Sie ist so weit
internalisiert, dass ihre Aufgabe einer Selbstaufgabe gleichkäme.
Dies kann keine Ausgangsposition sein, weder, um mit der deutschen
Gesellschaft ins Gespräch zu kommen, die dieses problematische
Kapitel der türkischen Geschichte immer offener diskutiert, noch mit
den Nachfahren der Opfer, die sich seit Jahrzehnten um die
Anerkennung ihres Leids bemühen.
Allein dieser Umstand ist schon ein ungeheuerlicher Vorgang. Man
stelle sich einmal vor: Die eigene Familie wird vertrieben, die
meisten Familienmitglieder verlieren während dieser Vertreibung ihr
Leben, werden regelrecht massakriert, die Davongekommen und ihre
Nachkommen aber müssen sich seit Jahrzehnten darum bemühen, dass der
Rest der Menschheit, geschweige denn das Volk der Täter, das Leid und
Unrecht, das ihnen widerfahren ist, anerkennt. Der Vorwurf der
türkischen Seite gegen die armenische Diaspora, diese handle
überzogen nationalistisch, ist infam, solange die offizielle Türkei
keinen Finger rührt, um diesen Menschen und ihren persönlichen
Geschichten entgegenzukommen.
Dieses Entgegenkommen kann weder durch eine gesellschaftliche
Diskussion um die Vorgänge in Anatolien im Jahre 1915 noch durch
Parlamentsdebatten ersetzt werden, schon gar nicht durch einen
internationalen Historikerstreit. Schon die Forderung, die Historiker
mögen sich mit dem Thema auseinander setzen, verrät Kälte und
Distanz, die Teil des Problems und nicht seine Lösung sind. Die
Archive seien offen, heißt es, als könne historische Wahrheit
lediglich über Archive erschlossen werden. Historische Wahrheit ist
keine naturwissenschaftliche Größe, die man mit einer mathematischen
Formel erschließen kann. Sie versteckt sich in den Erinnerungen jedes
einzelnen Menschen. Werden diese Erinnerungen einem permanenten
Prozess der Verdrängung ausgesetzt, gibt es keine Wahrheit, sondern
nur Lüge und Fälschung.
Die türkische Gesellschaft wird sich im 21. Jahrhundert dieses
morsche Fundament des Verleugnens und der kruden Geschichtsfälschung
nicht mehr leisten können, wenn sie in den Kreis europäischer Völker
aufgenommen werden will. Sie kann nicht von ihnen fordern, die eigene
Geschichte aufzuarbeiten, während die Türken nur an jene Version
glauben wollen, die sie selbst gefälscht haben.
Doch was in den letzten Wochen fast alle türkischen Medien auch in
Deutschland an den Tag legen, verheißt nichts Gutes. Statt einer
ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema geht es wohl darum,
Kapital aus der Leidensgeschichte der Armenier zu schlagen, denn sie
eignet sich bestens, nationale türkische Gefühle auszubeuten. Wenn
dies allerdings in Deutschland geschieht, ist das nicht nur
gefährlich, sondern unerträglich.
Die Diffamierung kritischer Stimmen durch diese Presseorgane hat
inzwischen jede journalistische Räson verloren und das Ausmaß einer
Kampagne angenommen. Wieder einmal wird deutlich: Den meisten
türkischen Politikern und ihren Handlangern sind die eigentlichen
Belange der Türken im Ausland vollkommen gleichgültig. Sie sehen in
den Türken im Ausland eine Manövriermasse für die eigenen Positionen,
egal wie haltbar sie sind. Sie sehen in ihnen Bauernopfer, die man
hin und her schiebt, um sie bei Gelegenheit fallen zu lassen. Die
nationalistisch aufgeladene Masse lässt das scheinbar mit sich
machen. Nicht ihre Integration in die deutsche Gesellschaft, nicht
ihre Etablierung und die anstehende kosmopolitische Orientierung,
nein, allein die nationalistische Gesinnung ist von Belang.
Das ist ein unerträglicher Zustand, der, sollte er anhalten, nichts
Gutes für das deutsch-türkische Verhältnis verheißt. Die Akzeptanz
der Türken in Deutschland durch die Einheimischen ist bereits sehr
gering. Die Folgen einer weiteren Entfremdung können kaum abgeschätzt
werden.
Vernünftige Stimmen in Deutschland, die noch zur rationalen Analyse
der Lage fähig sind, fehlen nicht gänzlich. So hat sich der Türkische
Bund in Berlin-Brandenburg (TBB) nicht von der nationalistischen
Welle mitreißen lassen. Das ist außerordentlich zu begrüßen, auch
wenn zu befürchten ist, dass die nun gegen diese Organisation
laufende Kampagne erheblichen Flurschaden in der türkischen
Bevölkerung anrichten wird. Die Instrumentalisierung des Völkermords
zu welchen Zwecken auch immer ist moralisch verwerflich und wirft
einen dunklen Schatten auf die Betreiber solcher Interessen. Das
trifft vor allem auf jene Politiker zu, die das so genannte gesunde
Empfinden der türkischen Gesellschaft, zu dem die Leugnung und
Verdrängung des Völkermordes gehören, bedienen.
Diese Instrumentalisierung aber ist nicht nur moralisch verwerflich,
sie deformiert auch diejenigen, die sie betreiben. Sie treten somit
in die Fußstapfen der Täter. Ebenso ist eine Gesellschaft, die ein
Verbrechen eines solches Ausmaßes verdrängt, Schuld und Verantwortung
hartnäckig verweigert, in keiner Weise vor Wiederholungen gefeit. Die
Lynchstimmung, die in den letzten Wochen auf den Straßen der Türkei
gegen Andersdenkende und Minderheiten aufgekommen ist, weckt nicht –
wie zu erwarten wäre – schlimme Erinnerungen, weil solche
Erinnerungen vorsätzlich aus dem Gedächtnis gelöscht worden sind.
All diese Vorgänge belegen nur eins: Die Dimension und Wirkung des
Völkermordes an den Armeniern ist von den Türken nicht begriffen
worden. Es fehlt nicht nur an rationaler Analyse, es fehlt auch an
einer mitfühlenden Seelenlage und einem Bewusstsein für
Verantwortung, die manche Diskussion vollkommen überflüssig machen
würden. Etwa, ob man die Vorgänge nun Völkermord oder Massaker und
Vertreibung nennt. Ein Begriffsstreit kann kein Opfer aus dem
Gedächtnis der Geschichte löschen. Eine Gesellschaft, die sich nicht
erinnern will, bleibt den Fehlern der Vergangenheit verhaftet. Dieses
Urteil ist viel schlimmer als jede Verurteilung, die irgendein
Parlament aussprechen kann.