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Informationen zur deutschen aussenpolitik
Revolutionäre Wirkungen
24.04.2005
BERLIN/ANKARA/ERIWAN (Eigener Bericht)
Die Türkei soll ihre ,,zwischenstaatlichen Beziehungen zu Armenien
umgehend normalisier(en)” und damit die Einflussnahme Berlins und der
EU im südlichen Kaukasus erleichtern. Dies fordert die
CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Um eine ,,Versöhnung” mit
Eriwan einzuleiten, solle Ankara sich der ,,europäischen
Erinnerungskultur” einfügen und sich mit dem Genozid an der
armenischsprachigen Bevölkerung des Landes ,,vorbehaltlos
auseinandersetz(en)” , heißt es in der entsprechenden
Parlamentsvorlage. Wie Bundestagsabgeordnete verschiedener Fraktionen
erklären, solle dabei auf die Begriffe ,,Völkermord” bzw. ,,Genozid”
verzichtet werden. Ein solches Vorgehen befreit die Türkei von
jeglichen Entschädigungsansprüchen und entspricht der Praxis der
Bundesregierung, die überlebenden Opfer deutscher Staatsaggressionen
mit folgenlosen Gedenkritualen abzuspeisen. In den Genozid, dessen
Beginn sich am heutigen Sonntag zum 90. Male jährt, waren die
deutsche Reichsregierung und das deutsche Militär maßgeblich
involviert.
Wie es in dem CDU/CSU-Antrag heißt, liege es ,,im Interesse der EU,
durch die Öffnung des Landweges durch die Türkei die wirtschaftliche
Entwicklung Armeniens und die Stabilität in der Region zu fördern”
.1) Ankara hat die Beziehungen zu Eriwan abgebrochen und die
türkisch-armenische Grenze geschlossen, nachdem der Streit zwischen
Armenien und dem türkischen Verbündeten Aserbaidschan um das von
beiden Seiten beanspruchte Gebiet Nagornyi-Karabach eskalierte. Dies
sichert Russland, aber auch dem Iran bedeutenden Wirtschaftseinfluss
auf das arme Kaukasus-Land. Wie andere GUS-Staaten gerät auch
Armenien unter immer stärkeren Druck, sich von Russland zu lösen und
den westlichen Hegemonialmächten zu unterstellen. Der
Verteidigungsminister des Landes hat kürzlich angekündigt, die
Verbindungen zur NATO vertiefen zu wollen, ein früherer armenischer
Premierminister plädiert für einen Umsturz a la Kiew.2)
,,Europäische Erinnerungskultur”
Den ,,Ausgleich” zwischen der Türkei und Armenien, der für die
Westbindung des Landes erforderlich ist, will Berlin nun mit einem
Geschichtsdiskurs befördern, der den Genozid der Jahre 1915 und 1916
thematisiert. Im September 2002 noch hatte die Bundesregierung die
Ansicht vertreten, ,,dass die beiden Länder selbst die Grundlage für
eine Verbesserung ihres Verhältnisses definieren sollten” .3) Am
vergangenen Donnerstag (21. April) haben Abgeordnete sämtlicher
Fraktionen die Türkei aufgefordert, in eine Debatte über die Massaker
während des Ersten Weltkriegs einzutreten. Die armenische Regierung
hat bereits vor drei Jahren auf die Anerkennung der Mordtaten als
,,Völkermord” verzichtet, die als Voraussetzung für
Entschädigungsansprüche überlebender Opfer und ihrer Nachkommen gilt.
Damit ist der Weg frei für eine folgenlose Auseinandersetzung
(,,europäische Erinnerungskultur” ) mit den damaligen Massakern,
denen mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen.4)
Militärmission
In den Genozid, der am 24. April 1915 mit der Deportation
armenischsprachiger Intellektueller aus Konstantinopel (heute:
Istanbul) begann, waren die deutsche Reichsregierung und das deutsche
Militär maßgeblich involviert. Berlin deckte die Massaker des
Weltkriegsverbündeten: ,,Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum
Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber
Armenier zu Grunde gehen oder nicht” , schrieb der damalige
Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Das Deutsche Reich
unterstützte das Osmanische Reich mit der Entsendung einer
einflussreichen ,,Militärmission” , die gegen Ende des Ersten
Weltkriegs rund 800 teilweise hochrangige deutsche Offiziere in
osmanischen Diensten umfasste. Der Generalstab der III. Armee, in
deren ostanatolischem Stationierungsgebiet die Mehrheit der
armenischsprachigen Bevölkerung siedelte, unterstand dem deutschen
Offizier Felix Guse, andere deutsche Soldaten unterzeichneten
Deportationsbefehle oder waren an Hinrichtungen unmittelbar
beteiligt.5),,Der Armenier ist wie der Jude” , bemerkte General Fritz
Bronsart von Schellendorf, während des Kriegs Chef des osmanischen
Feldheeres in Istanbul, Anfang 1919: ,,außerhalb seiner Heimat ein
Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich
niedergelassen hat, aufsaugt.”6)
Notwehr
Schon als im Jahr 1895 rund 100.000 Menschen Pogromen gegen die
armenischsprachige Bevölkerung des Osmanischen Reichs zum Opfer
fielen, erklärte der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt Alfons
Freiherr Mumm von Schwarzenstein, es könne ,,nicht die Aufgabe der
deutschen Politik sein, sich um die Christen in der ganzen Welt zu
kümmern und einen europäischen Kreuzzug gegen den Halbmond ins Leben
zu rufen” . Friedrich Naumann, einer der prominentesten Strategen der
deutschen Expansion, äußerte 1896 Verständnis für ,,die Notwehr des
Türken” .7)
Menschenrechte
Die Berliner Duldung des Massenmords entsprach mittelfristigen
Bündnisüberlegungen, aber ließ die Option eines deutschen
Besatzungsregimes in der Türkei grundsätzlich offen. Dabei setzte die
kaiserliche Außenpolitik auf Instrumentalisierung der
,,Menschenrechte” , mit denen eine spätere Eroberung Istanbuls
eingeleitet werden könnte. Wie Friedrich Naumann damals ausführte,
ließe sich durch Unterstützung von ,,Griechen, Serben, Bulgaren,
Mazedonier(n), Syrer(n), Armenier(n)” der Sturz des Osmanischen
Reiches herbeiführen. ,,Das Verfahren ist dieses: man fordert für die
abhängigen Völkerschaften Menschenrechte oder Humanität oder
Civilisation oder politische Freiheit, kurz, irgend etwas, was sie
den Türken gleichstellt.” Dies müsse im ,,Vielvölkerstaat” zu
,,revolutionären Wirkungen” führen.8)
Regulieren
Die gegenwärtige deutsche Außenpolitik schließt an die früheren
Überlegungen des Auswärtigen Amtes an und will ihre Ziele mittels
Forderungen durchsetzen, die einschlägigen Katalogen der
,,Zivilgesellschaft” (Naumann: ,,Civilisation” ) entnommen sind.
Demnach habe die Türkei durch Berücksichtigung von
Minderheitenrechten, ,,good governance” und ,,nachhaltiger”
Rechtspflege ihre Europa-Tauglichkeit zu erweisen. Avantgarde bei der
Anwendung dieses Instrumentariums war in den vergangenen Jahren die
Heinrich-Böll-Stiftung, die in Instanbul ein Büro unterhält. Auch
Regierungsmitglieder der SPD haben wiederholt versucht, die
innertürkische Opposition in die außenpolitischen Ziele Berlins
einzuspannen.9) Mit der überparteilich formulierten
Armenien-Resolution hat sich jetzt auch die CDU/CSU entschieden,
wirtschaftspolitische und klerikale Sonderinteressen in der Türkei
unter Bezug auf die ,,Menschenrechte” offen zu halten.
1) Antrag: Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages des Auftakts zu
Vertreibungen und Massakern an den Armeniern am 24. April 1915 –
Deutschland muss zur Versöhung zwischen Türken und Armeniern
beitragen; Bundestags-Drucksache 15/4933
2) s. dazu Transportkorridor
3) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
Abgeordneten Uwe Hiksch, Ulla Jelpke, Dr. Winfried Wolf und der
Fraktion der PDS; Bundestags-Drucksache 14/9921
4) s. dazu Rechtsansprüche ausgeschlossen und Berlin: Keine
materielle Entschädigungspflicht für NS-Verbrechen sowie Europas
Zukunft
5) Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern. Die Tragödie des
ältesten Christenvolkes der Welt, München/Wien 1993
6) Julius H. Schoeps: Der verdrängte Genozid;
25.03.2005
7), 8) Hans-Walter Schmuhl: Friedrich Naumann und die Armenische
Frage. Die deutsche Öffentlichkeit und die Verfolgung der Armenier
vor 1915; www.histnet/kieser/aghet/Essays/EssaySchmuhl.html#fnB13
. 9) s. dazu Deutsche Stiftungen: ,,Dem äußeren und inneren Frieden
förderlich” und Umstrittene Instrumente
Quellen:
Armenian Defense Minister Pledges to ,,Deepen Ties” with NATO; RFE/RL
Newsline 07.04.2005
Former Armenian Premier calls for Revolution; RFE/RL Newsline
18.04.2005
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