Frankfurter Allgemeine Zeitung
18. Mai 2005
Nationale Ehrensache;
Eine Armenien-Kommission liegt im turkischen Interesse
Die Motive, die Turkei seit 1959 an das sich integrierende Europa
heranzufuhren, waren komplexer Art. Naturlich war der Marktzugang
wichtig. Es ging aber auch darum, andere europäische Staaten durch
die Verhandlungen mit der Turkei zum Beitritt zu animieren. De Gaulle
betrieb das antiamerikanische Projekt eines “großen Europa”. Adenauer
wollte eine stabile Verbindung zu einem Arbeitskräftereservoir des
deutschen Wirtschaftswunders. Hinzu kam, daß Deutschland in der EWG
nur von ehemaligen “Feindstaaten” umgeben war. Mit der Turkei wurde
ein Land an die Gemeinschaft herangefuhrt, gegenuber dem Deutschland
nicht mit einem Schuldkomplex belastet war. Auch nach dem Ersten
Weltkrieg, als Deutschland ebenfalls moralisch stigmatisiert war,
wurde ein Freundschaftsvertrag mit der Turkei geschlossen, im Jahre
1924 – fur das Reich ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur
Normalisierung seines Status in der Volkerfamilie.
Die Rechnung, durch die Aufnahme der Verhandlungen zwischen der EWG
und der Turkei 1959 andere Staaten zum Beitritt zu animieren, ist
aufgegangen. Neunzehn Staaten sind seitdem beigetreten, nur die
Turkei noch nicht. Anders als in den funfziger und sechziger Jahren
werden heute immer neue Argumente angefuhrt, warum die Turkei nicht
zu Europa gehoren konne. Einige davon, wie die Berufung auf das
Fundament der Antike oder die exklusive christliche Tradition
Europas, werden auch von den Beitrittsgegnern nicht mehr ohne
Einschränkung vertreten. In den Vordergrund ist, nicht allein aus
kalendarischen Grunden, ein geschichtspolitisches Thema getreten: der
Massenmord an den Armeniern. Der Umgang der Turkei mit der Erinnerung
an dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte wird immer häufiger als
Beleg der angeblichen Europa-Untauglichkeit der Turkei angefuhrt.
Es mutet allerdings merkwurdig an, wenn dies von Deutschen mit
besonderem Nachdruck herausgestellt wird. Als Deutschland in Europa
integriert wurde, waren die Maßstäbe weniger rigoros. Im Gegenteil,
in den funfziger und sechziger Jahren sahen sich die europäischen
Nachbarn der Bundesrepublik sowohl in der Bonner Zentrale als auch in
manchen diplomatischen Vertretungen der jungen Republik mitunter mit
Repräsentanten konfrontiert, die sie noch aus der Zeit der
nationalsozialistischen Besetzung ihrer Länder kennen konnte. In der
Bundesrepublik selbst herrschte damals ein “kommunikatives
Beschweigen” der jungsten Vergangenheit vor. Noch 1963, als Fritz
Bauer den Auschwitz-Prozeß anstrengte, reagierten weite Teile der
Offentlichkeit mit Ablehnung.
Aber die Zeiten haben sich geändert, und an die Turkei werden heute
andere Maßstäbe angelegt. Einiges spricht dafur, daß die offizielle
Turkei sich bereits auf einen produktiven Weg begeben hat. Zunehmend
setzt sich die Ansicht durch, daß das Thema schon aus Grunden der
internationalen Reputation historisch bearbeitet werden muß. Wenig
hilfreich fur das kunftige Ansehen der Turkei ist jedoch die
gelegentlich geäußerte Ansicht, man konne die Sache ganz den
Historikern uberantworten und damit gewissermaßen aus Politik und
Gesellschaft auslagern. Gänzlich kontraproduktiv fur das Ansehen der
Turkei ist es, wenn hohe Repräsentanten das Kapitel fur abgeschlossen
erklären. Die Begrundung, es gelte, nicht immerfort alte Wunden
aufzureißen, sondern sich der Zukunft zuzuwenden, verfängt nicht. Die
Opfer und ihre Nachfahren, die durch die Traumatisierung von
Großeltern und Eltern, durch das Schicksal der Emigration und den
Verlust von Teilen ihrer Familien und ihres Volkes Opfer bleiben,
haben ein Recht auf Aufklärung und Erinnerung. In einer freien
Gesellschaft steht es dem Staat nicht zu, ein Thema fur erledigt zu
erklären. Wer einen Schlußstrich fordert, macht sich verdächtig.
Daher muß die turkische Regierung den Prozeß der Aufklärung selbst
aktiv befordern. Die Turkei sollte die Defensive verlassen und die
Initiative ergreifen. Sie sollte Armenien und die armenische Diaspora
einladen, die Ereignisse von 1915 bis 1917 durch eine gemeinsam
berufene Historikerkommission aufzuklären. Ministerpräsident Erdogan
hat sich jungst diesen Vorschlag zu eigen gemacht und dafur prompt
das Lob Bundeskanzler Schroders geerntet. Die Kommission solle “die
Vorgänge, die seinerzeit stattgefunden haben, fair aufarbeiten, so
wie sie der historischen Wirklichkeit entsprechen”. Langfristig
konnte auch eine gemeinsame Schulbuchkommission nach dem Vorbild der
polnisch-deutschen und franzosisch-deutschen Kommissionen angestrebt
werden. Sollte sich die armenische Seite, wie jungst gelegentlich
angedeutet, mit dem Argument verweigern, die Ereignisse seien bekannt
und bedurften keiner Aufklärung, mußte die turkische Regierung zum
Nutzen des Ansehens ihres Landes dennoch diesen Weg wählen.
Die Weltoffentlichkeit wurde schon die Berufung der Kommission
kritisch beobachten. Der Eindruck, daß gefällige Historiker benannt
werden, die sich durch regierungsnahe Positionen empfohlen haben,
darf nicht entstehen. Nur beispielshalber zwei Namen: Der turkische
Historiker Halil Berktay genießt auch jenseits der turkischen Grenzen
hohe Wertschätzung, und der Publizist Rolf Hosfeld hat jungst die
Verstrickung des Deutschen Reiches in den Massenmord an den Armeniern
herausgearbeitet (Operation Nemesis, 2005). Aber hier sind
Personalvorschläge wohl verfruht. Eventuell konnte man sich bei der
Berufung geeigneter Mitglieder der Hilfe des “International Committee
of Historical Sciences” versichern.
Damit der politische Wille zur historischen Aufarbeitung glaubhaft
wird, muß eine großzugige finanzielle Forderung von seiten der
turkischen Regierung einhergehen mit vollständiger Freiheit der
Forschung und Zugänglichkeit der Archivbestände. Hinsichtlich der
moglichen Ergebnisse darf es keine Restriktionen geben. Das heißt
auch, daß die Phobie gegenuber bestimmten Begriffen wie “Genozid” und
“Volkermord” uberwunden werden muß. Die grundsätzliche Entscheidung
zur Aufarbeitung darf nicht durch Willkur vor Ort beim Zugang zu den
Archivalien oder durch Willkur auf der unteren Verwaltungsebene
konterkariert werden. Optimale Arbeitsbedingungen in den Archiven
sollten den Willen zur Aufarbeitung bestätigen.
Japan taugt nicht zum Modell: Daß der Ministerpräsident vor der
internationalen Offentlichkeit die Verbrechen der Vergangenheit
zugibt, während gleichzeitig achtundsiebzig Mitglieder der
Regierungspartei demonstrativ verurteilte Kriegsverbrecher ehren,
kann keinen Gewinn an nationaler Reputation bringen. Die Arbeitsweise
des turkischen Gremiums konnte sich an der 1996 unter der Leitung von
Jean-Francois Bergier berufenen Schweizer Kommission orientieren,
welche die Verstrickung der Schweiz in deutsche Verbrechen während
des Zweiten Weltkrieges untersuchte. Zu den Problemen, welche eine
solche Kommission zu bearbeiten hätte, wurde insbesondere auch die
historische Kontextualisierung der Ereignisse zwischen 1915 und 1917
gehoren: Gab es fruhere Massaker und Aufstände im Osmanischen Reich?
Welche Ursachen hatten sie? Und welche Rolle spielten die
europäischen Mächte? Hier wäre eine moglichst lange Perspektive zu
wählen.
Wenn die Turkei ernsthaft die Tendenz zur apologetische Behandlung
der eigenen Geschichte uberwinden will, so hat sie den großen
Vorteil, daß die Auseinandersetzung mit den Taten von 1915 bis 1917
von ihren Eliten nicht mehr als Selbstkritik verstanden werden muß.
Auch in Deutschland ging die Distanzierung vom “Dritten Reich” Hand
in Hand mit der Selbstfindung der Bundesrepublik. Deutsche
Großunternehmen, die sich aufgrund ihres Verhaltens während der
Nazizeit international vom Boykott bedroht sahen, traten die Flucht
nach vorne an, ließen ihre Geschichte von unabhängigen Historikern
ohne Vorgaben aufarbeiten. Andere Unternehmen, Institutionen und
Verbände folgten, um Wettbewerbs- und Imagenachteile zu vermeiden.
Heuten gelten die einst diffamierten Lokalhistoriker als Pioniere.
Die bekannten Zeitgeschichtler Deutschlands von Hans Mommsen uber
Norbert Frei bis zu Gotz Aly wirken heute, ohne daß sie jemand dazu
bestellt hätte, als Botschafter eines seine Geschichte
reflektierenden Deutschland. Durch ihre Arbeit verburgen sie
glaubhaft, daß weder die deutsche Politik noch die Mehrheit der
deutschen Gesellschaft das von Deutschen in der Vergangenheit
begangene Unrecht verleugnen will.
Vor einigen Wochen ist Ministerpräsident Erdogan ein Offener Brief
der “International Association of Genocide Scholars” zugegangen. Der
letzte Satz des von Robert Melson, Israel Charny und Peter Balakian
unterzeichneten Schreibens verweist auf das deutsche Beispiel: “Wir
glauben, daß es im Interesse des turkischen Volkes liegt, sofern es
in Zukunft mit gleichem Recht und gleichem Stolz am internationalen
demokratischen Diskurs teilnehmen mochte, die Verantwortung einer
fruheren Regierung fur den Genozid am armenischen Volk anzuerkennen –
genauso wie die deutsche Regierung und das deutsche Volk es im Fall
des Holocaust getan haben.”
In absehbarer Zeit wird auch der amerikanische Kongreß wie schon die
franzosische Nationalversammlung und der Deutsche Bundestag des
Massenmordes an den Armeniern gedenken. Die turkische Regierung
sollte sich, statt in einer fremdbestimmten demutigenden
Ruckwärtsverteidigung zu verharren, zu einer kreativen, offensiven
und moralisch unanfechtbaren Aufarbeitung der Vergangenheit
durchringen.
WOLFGANG BURGDORF
Der turkische Ministerpräsident Erdogan hat sich unter dem Beifall
von Bundeskanzler Schroder den Vorschlag zu eigen gemacht, eine
internationale Historikerkommission mit den Armeniermorden von 1915
zu befassen. Der Munchner Historiker Wolfgang Burgdorf benennt
“essentials” fur die Arbeit einer solchen gelehrten Schiedsstelle.
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