Professor Garabed Antranikian fahndet nach Extremorganismen

Frankfurter Rundschau
24. Mai 2005

Die weiße Revolution ;
Professor Garabed Antranikian fahndet nach Extremorganismen, die die
industrielle Produktion umweltfreundlich machen

VON JOACHIM WILLE

Es kocht. Es brodelt. Es stinkt. Garabed Antranikian ist in seinem
Element. Der Hamburger Professor kauert am Ufer einer heißen Quelle,
hoch oben in den Bergen der größten Azoren-Insel São Miguel.
Vorsichtig taucht der Wissenschaftler seine Schöpfkelle in das
infernalische Gebräu.

“Man muss schon aufpassen”, sagt er. Die heißen Schwefeldämpfe, die
hier aufsteigen, können einem den Atem nehmen, die Sinne rauben. Ihm
ist es einmal passiert. Beinahe wäre er in der kochend heißen Brühe
gelandet. Die Folgen – lieber nicht dran denken. Trotzdem zieht es
Antranikian immer wieder an solch unwirtliche Orte auf der Erde,
egal, ob heiße Quellen, schweflige Vulkane, salzige Seen, versauerte
Felder. “Ich muss mitkriegen”, sagt er, “wie es da ist.”

Der Hamburger Mikrobioge Antranikian liebt die Extreme. Genauer: die,
die die Extreme lieben, die “Extremophilen”. Das sind
Kleinstlebewesen, die sich darauf spezialisiert haben, in den
unwirtlichsten Umgebungen zu überleben. Bakterien, die bei minus fünf
Grad Celsius gedeihen oder bei plus 103, Bakterien, die es in heißer
Säure aushalten, Bakterien, die sich bei 1000 bar Druck erst so
richtig wohlfühlen.

Doch nicht pure Lust am Wissen, Erforschen, Zurückdrängen des
Unbekannten treibt den Professor um, sondern das Ziel, eine veritable
neue industrielle Revolution anzustoßen. Umweltfreundlich, nachhaltig
und am besten auch noch billiger sollen Produktion und Produkte
werden – durch “weiße Biotechnologie”. Das Potenzial als biologische
Katalysatoren, das in den zwei Mikrometer kleinen Spezialisten aus
den extremen ökologischen Nischen der Erde steckt, scheint riesig.
Dazu nimmt man schon einmal etwas Kraxelei in Kauf.

Von der Straße geht es eine halbe Stunde über schmale Pfade hinauf zu
den heißen Quellen. Einen Expeditionskoffer haben Antranikian und
sein Team immer dabei. Die Proben aus dem brodelnden Wasser füllen
sie in vorher sterilisierte Flaschen ab, dann geht es mit der
unscheinbaren, doch potentiell wertvolle Kollektion wieder hinunter
zum Auto. “Auf São Miguel sind die Bedingungen gut”, erläutert der
Professor. Dort hat die Universität von Acores ein Biotechnik-Labor.
Hier können die Wissenschaftler ihre Proben ohne Verzögerung
untersuchen. Sie isolieren die Mikroorganismen und machen sie
“transportfähig”. Ziel der sich anschließenden Flugreise: ein
Eisschrank im Institut für Technische Mikrobiologie an der TU
Hamburg-Harburg. “Minus 80 Grad” steht an dem weißen Kasten. “Das
ist”, sagt Antranikian, “unsere Schatzkammer.”

Zwei der Kälteboxen stehen bereits im Labor. Vier weitere sollen
hinzukommen, eine davon wird die Mikroorganismen sogar bei Minus 150
Grad frisch halten. Ziel der frostigen Aufrüstung: In dem Institut
entsteht die weltweit größte Genbank von “Biokatalysatoren”.
Antranikian und sein 20-köpfiges Team wollen künftig auf Anfrage von
Unternehmen in kürzester Zeit geeignete Hilfsstoffe für die
Produktion, die so genannten Enzyme, bereitstellen können. Die
aufwendigen Expeditionen wie die auf die Azoren, aber auch in die
Tiefsee vor Japan oder in den Eiskeller der Arktis sind dann nicht
mehr nötig. “Wir tauen die Proben auf, und schon sind die
Mikroorganismen wieder putzmunter”, sagt Antranikians Mitarbeiter
Ralf Grote. Er lacht: “Dann quälen wir sie.” Nämlich, um ihnen ihr
Geheimnis zu entlocken.

Warum die Hamburger Forscher den Aufwand treiben? Die weiße
Biotechnologie gilt als große Hoffnung für den integrierten
Umweltschutz, der bereits in der industriellen Produktion ansetzt und
ökologische Probleme von Anfang an vermeidet. Nachgeschaltete
Schadstoff-Filter werden unnötig, und die Produktion läuft abfallarm
und mit niedrigerem Energieaufwand. Enzyme sind natürliche
Eiweißmoleküle, die chemische Reaktionen beschleunigen und so
Stoffumwandlungen ermöglichen, die sonst nur langsam oder überhaupt
nicht ablaufen. “Sie arbeiten besonders zielgenau”, sagt Antranikian,
“das ist ihr Vorteil.” Besonders vielversprechend, das zeichnet sich
ab, sind sie in der Produktion von Arzneimittelvorstufen, Vitaminen,
Feinchemikalien, Textilien, Papier und Futtermitteln.

Biokraft in der Waschmaschine

Schon heute lässt sich leicht illustrieren, welche Vorteile der
Umstieg von der klassischen Chemie auf biotechnische Verfahren
bringt. “Schauen Sie sich die modernen Waschmittel an”, sagt
Antranikian. “Haben die gleiche Waschleistung bei 40 statt bei 60
Grad, und man braucht weniger Pulver.” Der Clou: Sie arbeiten mit
Enzymen, die aus Bakterien isoliert und dann gentechnisch vermehrt
wurden. Die Energiebilanz lässt sich sehen. Möglicher Einspareffekt
in Deutschland allein durch den Dreh am Temperaturknopf: 1,3
Millionen Tonnen des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2).

Oder ein Beispiel aus der Textilindustrie: Durch den Einsatz des
Enzyms Katalase beim Färben von Baumwolle kann der Wasserverbrauch
pro Tonne Textilien um 19 000 Liter verringert werden: Zudem werden
500 Kilowattstunden Strom eingespart. Antranikian verweist gerne
darauf, dass nicht nur kleine Pionierfirmen, sondern auch
Großkonzerne wie die BASF bereits “angebissen” haben. Der
Ludwigshafener Multi, berichtet er, hat den traditionellen,
achtstufigen Prozess zur Herstellung von Vitamin B2 durch einen
einstufigen biotechnischen ersetzt. Ergebnis: Produktionskosten
gesenkt und 60 Prozent weniger CO2.

Doch kein solcher Erfolg ohne besagte “Qual”. Der Institutschef, im
vergangenen Herbst für seine Pionierarbeiten mit dem begehrten Preis
der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ausgezeichnet, führt gerne durch
das “Folter-Labor” im Erdgeschoss des modernen Institutsgebäudes. Um
heraus zu bekommen, welche in den Industrieprozessen nutzbare
Eigenschaften die Mikroorganismen haben, werden sie in Nährlösung
vermehrt, auf viele Glasfläschchen verteilt und nach allen Regeln der
Wissenschaft durchgecheckt: Man setzt sie Ultraschall, hohem Druck,
großer Hitze aus. Man testet, ob sie saure, basische, salzige,
schweflige Milieus tolerieren. Sie werden gerührt, geschüttelt,
gereinigt, mit dem Gas-Chromatographen untersucht.

Um später im industriellen Maßstab mit Biokatalysatoren arbeiten zu
können, sind die Bakterien in ihrer ursprünglichen Form allerdings
nicht geeignet. “Die Extremophilen vermehren sich zu langsam”, sagt
Antranikian. Hier beginnt der eigentliche gentechnische Teil der
Arbeit. Die Erbgut-Sequenzen geeigneter Mikroorganismen, die für den
Job als “Biokatalysator” zuständig sind, werden herausgeschnitten und
in einen “Wirtsstamm” eingefügt. Das Bakterium Escherichia coli zum
Beispiel, das sich sehr leicht vermehren lässt und auch in vielen
anderen Gentech-Produktionen wie der Insulin-Gewinnung benutzt wird.
“Erst so können die nötigen Mengen der Enzyme gewonnen werden”,
erläutert der Professor. Im Hamburger Institut allerdings werden nur
einfache gentechnische Verfahren benutzt. Dass die Versuche kaum
einschlägige Risiken mit sich bringen, kann man daran ablesen, dass
es ein Sicherheitslabor der untersten Stufe “S 1” ist. Nach einer
kurzen Unterweisung kann jeder es betreten.

Antranikian kommt ins Schwärmen. Im Flur des Labors hängen
Wandtafeln, die illustrieren, was seine winzigen, extremen Freunde
auch noch so alles können werden, wenn man nur die richtigen findet.
Erdöl-verseuchte Anlagen dekontaminieren, Wolle so glätten, dass sie
nicht mehr kratzt, Holz und andere nachwachsende Rohstoffe
enzymatisch so aufspalten, dass sie fast alle Grundmaterialien für
die Chemie und Treibstoffe liefern.

Ungenutzte Bio-Abfälle

Stichworte: Bio-Kunststoffe und Bioalkohol. Nach Antranikians
Berechnungen würden bereits die ungenutzten Biomasse-Abfälle in
Forst- und Landwirtschaft ausreichen, um daraus 40 Prozent der heute
produzierten Chemikalien herzustellen. Allerdings: “Vom Himmel fällt
das nicht”, sagt der Professor. Mehr Forschung sei notwendig, vor
allem: “Wir müssen mit unseren Alternativen mindestens so billig sein
wie die herkömmliche Produktion. Sonst stellt niemand um.” Ein wenig
sehnsüchtig schaut Antranikian in die USA, wo die weiße
Biotechnologie mit über 100 Millionen Dollar jährlich gefördert wird.
Und klagt: “Davon sind wir weit entfernt.”

Immerhin scheint die Politik in Berlin inzwischen aufmerksam zu
werden. Wirtschafsminister Wolfgang Clement (SPD) brach jüngst eine
Lanze für das “wichtige Handlungsfeld für eine nachhaltige
Wirtschaftspolitik”. Und sogar die Gentechnik-kritischen Grünen
sprechen sich für die “weiße” Variante aus. “Da war ich platt, wie
offen die dafür sind”, sagt Antranikian.

Doch selbst wenn einmal alle Forscherwünsche in Erfüllung gingen – in
der Arktis würde er selbst niemals nach Extremophilen fahnden: “Da
ist es mir zu kalt.”

Beherrscher der extremen Mikroben~ Professor Garabed Antranikian ist
armenischer Abstammung. Er wurde 1951 in der jordanischen Hauptstadt
Amman geboren, ging in Jerusalem zur Priesterschule und studierte in
den 70er Jahren Biologie an der renommierten amerikanischen
Universität in Beirut. Seinen Plan, die akademische Laufbahn danach
in den USA fortzusetzen, scheiterte an den Wirren in dem damaligen
Bürgerkriegsland. Der Weg zur US-Botschaft in Beirut, bei der er eine
Aufenthaltsgenehmigung beantragen wollte, war zu gefährlich. Die
deutsche Botschaft lag günstiger, und so kam Antranikian an die
Universität in Göttingen. Er promovierte dort 1980 am Institut für
Mikrobiologie und Genetik. 1989 wurde er Professor für Mikrobiologie
an der Technischen Hochschule Hamburg-Harburg. Seit 2003 leitet er
das neu eingerichtete Institut für technische Mikrobiologie, das
stark mit der Industrie zusammenarbeitet. Professor Antranikian ist
Inhaber von mehr als 100 Patenten. jw