Turkei verbietet “Armenierluge”

Frankfurter Rundschau
27 Mai 2005

Türkei verbietet “Armenierlüge”

Rede von Völkermord im osmanischen Reich wird künftig bestraft /
Parlament in Ankara billigt Strafrechtsreform

Wer in der Türkei von einem Völkermord an den Armeniern zur Zeit des
osmanischen Reichs spricht, muss künftig mit drei bis zehn Jahren
Haft rechnen.

VON GERD HÖHLER

“Glücklich ist, wer sich Türke nennen kann” (ap)

Athen · 27. Mai · Die Strafbarkeit der “Armenierlüge” sieht eine von
39 Strafrechtsänderungen vor, die am Freitag mit den Stimmen der
Regierungsfraktion vom Parlament in Ankara verabschiedet wurden. Die
oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) nahm an der
Abstimmung nicht teil – aus Protest gegen einen von der
gemäßigt-islamischen Regierung in die Reform aufgenommenen
Paragrafen, der die Strafen für illegale Korankurse herabsetzt.

Die Überarbeitung des fast 80 Jahre alten türkischen
Strafrechtskatalogs gilt als wichtige Voraussetzung für den Beginn
von EU-Beitrittsverhandlungen. Die neuen Bestimmungen sehen unter
anderem härtere Strafen für Folter, Korruption, Drogen- und
Menschenhandel vor. Erstmals werden Vergewaltigung in der Ehe und
sexuelle Belästigung strafbar. Das neue Strafrecht enthält allerdings
auch eine Reihe von Bestimmungen, die sich kaum mit den EU-Ambitionen
des Landes vertragen. So soll mit mindestens drei Jahren Haft
bestraft werden, wer gegen die “fundamentalen nationalen Interessen”
handelt – ein Gummiparagraf mit weiten Auslegungsmöglichkeiten.

Wie weit sie sind, zeigt ein dem Gesetzentwurf beigefügter Kommentar,
mit dem die Väter der Strafbestimmung erläutern, wie sie sich deren
Anwendung vorstellen: Strafbar, so heißt es, könnte sich danach
machen, wer behauptet, es habe im Ersten Weltkrieg einen Völkermord
an den Armeniern gegeben. Bei Historikern außerhalb der Türkei
herrscht über diesen Massenmord weitgehend Einigkeit. Auch wer
fordert, die Türkei solle ihre Besatzungstruppen aus Nordzypern
abziehen, müsste künftig mit Haft rechnen.

Publizisten protestieren

Der neue Paragraf wie auch die Strafbestimmungen über die
“Beleidigung staatlicher Institutionen” könnte vor allem Handhabe
gegen kritische Publizisten geben. Weshalb Oktay Eksi, der
Vorsitzende des türkischen Presserates, bereits ahnt: “Die Tage, wenn
man von der Türkei als dem weltgrößten Gefängnis für Journalisten
sprechen wird, liegen erst noch vor uns”.

Die Strafrechtsreform sollte ursprünglich bereits vor zwei Monaten in
Kraft treten. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte die
Gesetzesänderungen jedoch im vergangenen Herbst zurückgezogen,
nachdem es im Ausland heftige Kritik an der geplanten
Kriminalisierung des Ehebruchs gegeben hatte. Dieses Vorhaben musste
der gemäßigt auftretende Islamist Erdogan auf Druck der EU fallen
lassen, das Gesetz wurde ohne den umstrittenen Ehebruchs-Paragrafen
verabschiedet.

Doch kurz vor dem geplanten Inkrafttreten am 1. April stoppte der
Premier die bereits gebilligte Reform erneut, weil die beabsichtigte
Verschärfung der Strafen für Meinungsdelikte auf erbitterten
Widerstand bei türkischen Journalisten stieß. Nun tritt die Reform
zum 1. Juni in Kraft. Presserat und Menschenrechtsgruppen bleiben
aber bei ihrer Kritik.

Bereits am vergangenen Mittwoch verabschiedete das Parlament ein
Gesetz, das den Zugang inhaftierter Terroristen zu ihren Anwälten
einschränkt. Verteidigergespräche können danach künftig überwacht
werden, der Austausch von Schriftstücken kann verboten werden. Es
handelt sich offensichtlich um eine “Lex Öcalan”: Der PKK-Führer, der
auf der Gefängnisinsel Imrali eine lebenslange Haftstrafe verbüßt,
wird verdächtigt, über seine Anwälte weiterhin Anweisungen an die
PKK-Kommandeure zu geben. Die neuen Bestimmungen sollen das
unterbinden.

Türkische Gesetzesreformen seit 2002

Die jetzt debattierten Strafrechtsänderungen sind das letzte große
Reformpaket vor den EU-Beitrittsverhandlung.

Todesstrafe: Seit 1984 nicht mehr vollstreckt. Mitte 2002 ganz
abgeschafft.

Minderheitenrechte: Schon 2002 wurde die kurdische Sprache in
Massenmedien und Erziehungswesen legalisiert. Umsetzung erst im
Frühjahr 2004. In staatlichen Schulen bleibt Kurdisch verboten.

Gleichberechtigung: Seit Mai 2004 verspricht die Verfassung die
Gleichstellung der Frau. Umsetzung vor allem im Osten Anatoliens kaum
zu spüren.

Religionsfreiheit: Einige Beschränkungen für nicht-moslemische
Glaubensgemeinschaften wurden aufgehoben. Christen klagen weiter über
Behinderungen.

Meinungsfreiheit: Zahlreiche Strafbestimmungen wurden gelockert.
Menschenrechtsgruppen fordern weitere Reformen.

Folter: Folterer können ohne Zustimmung ihrer Vorgesetzten verfolgt
werden. Strafen erheblich verschärft. Menschenrechtsstiftung sieht
immer noch “weit verbreitete Folter” (1040 Fälle im Jahr 2004).

Anti-Terror-Gesetze: 2003 gelockert, Staatssicherheitsgerichte
abgeschafft.

Militär: Nationaler Sicherheitsrat, lange wichtige
Entscheidungsinstanz, verlor die meisten Kompetenzen. An der Spitze
steht seit 2004 ein Zivilist (statt General). öhl

From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress