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Analyse
Die Warnung der Engel
Elif Shafak
Berlin und Istanbul haben viel miteinander gemein: die zerrissenen
Seelen, die schwere Last der Geschichte, die langen Schlangen vor den
DonerlÀden. In einer Hinsicht allerdings unterscheiden sie sich
fundamental: wenn Berlin die Stadt des entschlossenen Sich-Erinnerns
ist, dann ist Istanbul die Stadt der totalen Amnesie. In Berlin stoĂt
man uberall auf Spuren der Vergangenheit: Mit Mahnmalen und Plakaten,
DenkmÀlern und Ausstellungen wird das historische GedÀchtnis immer
wieder belebt. In Istanbul kÀme kein Mensch auf den Gedanken, eine
zerbombte Kirche als Mahnmal fur kunftige Generationen stehen zu
lassen; niemand erinnert mit Gedenktafeln daran, aus welchen HĂ€usern
die Bewohner vor siebzig Jahren verschleppt worden sind. Als ich in
Istanbul lebte, habe ich in der StraĂe der Kesselflicker gewohnt,
einer steilen alten Gasse, die von ethnischen Minderheiten aller Art
bewohnt wurde, spÀter von Schwulen und Lesben. Auch hier konnte man
gut ein Gedenkschild anbringen: “Am 6. und 7. September 1955
versammelte sich hier eine Horde turkischer Nationalisten und
zerstorte alle GeschÀfte, die nicht von Moslems gefuhrt wurden. Die
Ware von judischen, armenischen und griechischen HĂ€ndlern wurde aus
den LĂ€den gerissen und die StraĂe hinuntergeworfen.” In Berlin ist
diese Art offentlichen Gedenkens jederzeit moglich. In Istanbul
nicht.
Als die biblische Stadt Sodom in der Apokalypse versank, wurde Lot
von den Engeln gewarnt: “Rette dein Leben und sieh nicht hinter
dich.” Seine Frau hat die Warnung ignoriert, sie hat sich umgedreht
und ist zur SalzsÀule erstarrt. Wir Turken nehmen die Warnung der
Engel ernst – viel zu ernst: Sie ist fur uns das Haupt-Lebensmotto
geworden. Aber so lange wir der Vergangenheit nicht ins Gesicht sehen
konnen, bleiben unsere Herzen erstarrt.
Kurzlich wollte ich auf einer Konferenz zum Thema “Armenier im
letzten Jahrhundert des ottomanischen Reichs” reden. Doch wurde sie
schnell wieder abgesagt – nach einer chauvinistischen Rede des
turkischen Justizministers, der im Parlament alle Teilnehmer vorab
angeklagt hatte, der Nation einen Dolch in den Rucken zu stoĂen. Ganz
offensichtlich war der turkische Justizminister zu der Uberzeugung
gelangt, dass noch gar nicht vorgetragene wissenschaftliche Thesen
auf einer Konferenz, die noch gar nicht stattgefunden hatte, eine
ernste Bedrohung fur das Wohl der Nation bilden konnen.
Die Turkei befindet sich heute in einem Kulturkampf: einem Kampf
zwischen Erinnern und Vergessen. Erst wenn die turkische
Zivilgesellschaft beginnt, sich der eigenen Geschichte zu stellen,
wird auch der Demokratisierungsprozess eine wahre Chance bekommen.
Erst wenn die Turken das Leid eingestehen, dass sie den Armeniern
zugefugt haben, werden die Politiker auch den heute lebenden
ethnischen und religiosen Minderheiten ihre Rechte nicht mehr
verwehren konnen. Wer ein Verbrechen vergisst, bereitet den Boden fur
das nÀchste. Aus der VerdrÀngung der Vergangenheit erwÀchst keine
gute Zukunft. Jemand wie der turkische Justizminister verbietet uns
nicht nur das kritische Denken. Er verbietet uns auch das Recht auf
unsere Trauer und das Recht auf Erinnerung.
Elif Shafak (34) unterrichtet an der University of Arizona in Tucson
Gender Studies. Zuletzt erschien ihr Roman “Die Heilige des nahenden
Irrsinns” auf Deutsch im Eichborn-Verlag.
Dieser Text wurde aus dem Englischen von Jens Balzer ubersetzt.
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