Financial Times Deutschland
3. Juni 2005
Vorbei, aber nicht vergessen;
90 Jahre danach: Rolf Hosfeld fordert die Aufarbeitung des Genozids
an den Armeniern
von Ralf Hanselle
Die Vergangenheit fordert immer ihren Tribut. Die moderne Turkei
hÀtte diese Beobachtung bereits vor Jahren machen konnen. Doch 90
Jahre danach, ist man in Ankara noch immer nicht bereit, den
Volkermord an den Armeniern als das anzuerkennen, was er war: Ein
staatlich durchgefuhrter Genozid.
Doch die Geschichte lÀsst nicht locker. Nun hat der deutsche
Journalist Rolf Hosfeld uber die barbarischen Vorkommnisse in
Ostanatolien wÀhrend des Ersten Weltkriegs ein Buch veroffentlicht.
Gestutzt auf historische Quellen und Augenzeugenberichte erzÀhlt
Hosfeld die Geschichte des Volkermords an den christlichen Armeniern
im osmanisch-russischen Grenzgebiet nach. Zwischen 1915 und 1918
kostete er mindestens 800000 Menschen das Leben.
Hosfelds Buch “Operation Nemesis” lĂ€sst keine Zweifel: Die
Vernichtung der Armenier war von langer Hand geplant. Ausfuhrende:
Die seit der Revolution von 1908 herrschenden Jungturken und ihr
“Komitee fur Einheit und Fortschritt”. Sowohl die Regierung des
GroĂwesirs Said Halim als auch die Talaat Paschas wussten die
Uneinigkeit im “europĂ€ischen Konzert” zu nutzen, um die seit dem
Berliner Kongress offene armenische Frage zu entscheiden. Ziel war
es, so Talaats Worte, mit den “inneren Feinden grundlich aufzurĂ€umen,
ohne dabei durch die diplomatischen Interventionen des Auslands
gestort zu werden”.
Dieses “AufrĂ€umen” folgte immer gleichen Mustern. Region fur Region
wurden zunÀchst die Intellektuellen und Geistlichen inhaftiert,
gefoltert und erschossen. Danach folgte die normale Bevolkerung.
Protagonisten der Vernichtung waren neben einem dem Innenministerium
unterstehenden “Totenkopfverband” auch das MilitĂ€r und kurdische
Milizen.
Im Gegensatz zu den Progromen gegen die Armenier am Ende des 19.
Jahrhunderts tobte hier nicht der Mob, sondern ein panturkischer
Weltanschauungskrieg. Infiziert von rassistischem Gedankengut und
getrieben von einem Nationalismus, der von der Einheit sÀmtlicher
Turkvolker fabulierte, nutzten die Jungturken die antiarmenischen
Ressentiments fur eine geplante “Endlosung”. So ist es nicht
verwunderlich, dass auch spĂ€ter der “Vater der Turken”, Mustafa
Kemal, von diesem Genozid nichts wissen wollte. Zu verwurzelt war
sein modernistisches Gedankengut in den Anschauungen des “Komitees
fur Einheit und Fortschritt”; zu abhĂ€ngig war seine Regierung von den
Befehlshabern des Mordens in Ostanatolien.
“Operation Nemesis” verweist nachdrucklich auf die historische
Verantwortung der Turkei, es macht zudem aufmerksam auf das deutsche
Versagen unter dem damaligen Reichskanzler Bethmann-Hollweg. Es
beeindruckt durch seine akribische Recherche und liefert wichtige
Hintergrundinformationen zur aktuellen Armenien-Debatte. Es ist ein
Lehrstuck daruber, das vergangene GrÀuel nicht verdrÀngt werden
konnen, sondern bewÀltigt werden mussen. Die Auseinandersetzung mit
dem Volkermord zu fordern ist eine Aufgabe der aufgeklÀrten
Zivilgesellschaft – darin zeigt sich nicht zuletzt auch ihre Macht.
lllll
Rolf Hosfeld
“Operation Nemesis”, Kiepenheuer & Witsch, 288 S., 19,90 Euro
Bild(er):
PrĂ€ziser Rechercheur:Rolf Hosfeld – Ernst Rudolf Achinger
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From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress