Suddeutsche Zeitung
17. Juni 2005
Turkei emport uber deutsche Armenien-Resolution;
Außenminister Gul: “Verletzend” / Entschließung fordert Ausgleich und
Versohnung 90 Jahre nach Massakern;
Einstimmiger Beschluss im Bundestag
Berlin (SZ/AFP/AP/dpa) – Der Bundestag hat am Donnerstag mit den
Stimmen aller Fraktionen eine Entschließung zum Gedenken an die
turkischen Massaker an den Armeniern im Jahr 1915 verabschiedet. SPD,
CDU/CSU, Grune und FDP fordern die Bundesregierung auf, “dabei
mitzuhelfen, dass zwischen Turken und Armeniern ein Ausgleich durch
Aufarbeitung, Versohnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht
wird”. In der Resolution macht sich der Bundestag die Einstufung der
Massaker als “Volkermord” nicht ausdrucklich zu Eigen. Der Begriff
kommt aber in der Antragsbegrundung vor. Die Turkei reagierte emport
auf die Resolution. Der Gesandte der deutschen Botschaft in Ankara
wurde am Donnerstag in das Außenministerium zitiert. Außenminister
Abdullah Gul kritisierte die Resolution in einem Interview als
“verantwortungslos, besturzend und verletzend” fur die Turkei und die
in Deutschland lebenden Turken.
Keine normalen Beziehungen
Armenien wirft dem damaligen Osmanischen Reich einen gezielten
Volkermord an der armenische Bevolkerung vor, dem mehrere
hunderttausend Menschen zum Opfer fielen. Auch ein Großteil der
internationalen Offentlichkeit stuft die zwischen 1915 und 1917
begangenen Verbrechen als Volkermord ein. Aus Sicht der Turkei
handelte es sich bei den Ereignissen dagegen um die tragischen Folgen
einer Zwangsumsiedlung, die wegen des Krieges erforderlich gewesen
sei. Bei den Massakern und Todesmärschen starben zwischen 300 000 und
1,5 Millionen Menschen. Der Volkermordstreit verhindert bis heute
eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Turkei und dem
Nachbarstaat Armenien.
Der CDU-Abgeordnete Erwin Marschewski forderte die Turkei auf, sie
solle “die Aufarbeitung des Volkermordes an den Armeniern als Chance
im Demokratisierungsprozess nutzen”. Er wies darauf hin, dass
zahlreiche Staaten in Europa die Verbrechen an den Armeniern durch
die “Jungturkische Bewegung” als Volkermord anerkannt hätten und es
dazu auch Parlamentsbeschlusse gebe, darunter der franzosischen
Nationalversammlung vor vier Jahren. Auch in den Vereinigten Staaten
und der Schweiz wird uber den Volkermord seit längerer Zeit immer
wieder offentlich diskutiert. Bei der Entschließung gehe es nicht
darum, die Turkei an den Pranger zu stellen, sondern die Grundlage
fur eine auf historischer Aufarbeitung beruhende Aussohnung zu
schaffen, betonte der Vorsitzende der Arbeitsgruppe “Vertriebene und
Fluchtlinge” der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Bei der ersten Beratung
im Parlament am 21. April hatte der turkische Botschafter in
Deutschland, Mehmet Ali Irtemcelik, vor einer “Vergiftung” der
deutsch-turkischen Beziehungen gewarnt.
Mit dem Verzicht auf die Einstufung der Gräueltaten als “Volkermord”
bleibt der Bundestag hinter einem Beschluss des Europäischen
Parlaments vom Dezember 2004 zuruck. Das hatte die Turkei bei seiner
Zustimmung zur Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen ausdrucklich
aufgefordert, den Volkermord an den Armeniern als solchen
anzuerkennen.
Das Ereignis selbst ist in der unabhängigen historischen Forschung
unumstritten. “Der Genozid an den Armeniern in der osmanischen
Turkei, hauptsächlich während des Ersten Weltkriegs, war eine
historische Tragodie von weitgehender Bedeutung”, schrieb Professor
Yehuda Bauer, der fruhere Direktor des International Institute for
Holocaust Research am Jad Vaschem Holocaust Center in Jerusalem. Und
Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel nannte den an den Armeniern
verubten Volkermord einen “Holocaust vor dem Holocaust”. Die Leugnung
oder das Verharmlosen eines Volkermords gilt in der Genozidforschung
als letzte Etappe und integraler Bestandteil des Verbrechens.
GRAFIK: Weltweite Aufmerksamkeit: 90 Jahre nach dem Volkermord an
Armeniern gibt es immer wieder Proteste gegen die Turkei, die nicht
von einem Genozid im Jahr 1915 sprechen will. Im April demonstrierten
armenische Burger in Paris. Das Verhältnis zwischen der Turkei und
seinem Nachbarstaat gilt als zerruttet. – Foto: AFP
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