Der Tagesspiegel
18 juni 2005
Erdogan nennt Schroder ruckgratlos
Turkischer Premier hÀlt den Armenienbeschluss des Bundestages fur
~Dfalsch und hĂ€sslich” / Berlin: UnverstĂ€ndlich
Von Matthias Meisner, Hans Monath und Thomas Seibert
Berlin/Istanbul – Mit einer scharfen personlichen Attacke auf Kanzler
Gerhard Schroder hat der turkische Premier Recep Tayyip Erdogan auf
den Bundestagsbeschluss zu den Massakern 1915/16 an den Armeniern
reagiert. Ihm seien Politiker mit Ruckgrat lieber, sagte Erdogan in
Bezug auf Schroder, nachdem der Bundestag der im Osmanischen Reich
getoteten Armenier gedacht hatte. Noch Anfang Mai habe Schroder bei
seinem Besuch in der Turkei betont, er stimme mit der turkischen
Sicht der Dinge uberein, sagte Erdogan. Doch dann habe der Kanzler
nichts unternommen, um den Bundestagsbeschluss zu verhindern.
~DSehr falsch und sehr hĂ€sslich” sei der Bundestagsbeschluss gewesen,
sagte Erdogan. Der Bundestag sei Opfer armenischer Lobbyisten
geworden. Dass im Antrag selbst nicht von ~DVolkermord” die Rede ist
und der Begriff nur in der Begrundung auftaucht, sei kein Trost. ~DIch
mag eher Politiker mit Ruckgrat, mit starken Knochen”, sagte Erdogan
uber Schroder. Die Turkei behauptet bis heute, es habe sich nur um
kriegsbedingte Zwangsumsiedlungen gehandelt. Welche Konsequenzen
Erdogans Wutausbruch haben wird, war zunÀchst unklar. Die turkische
Regierung bestritt, dass in Ankara erwogen wird, den turkischen
Botschafter in Deutschland, Mehmet Ali Irtemcelik, zu Konsultationen
in die turkische Hauptstadt zuruckzurufen. Vor der deutschen
Botschaft in Ankara demonstrierten am Freitag nationalistische
Gewerkschafter, legten einen schwarzen Kranz nieder und riefen
Parolen wie ~DHitlers Bastarde”.
Die Bundesregierung wies die Kritik Erdogans zuruck. Dessen
Behauptung, der Beschluss sei ~Dfalsch und hĂ€sslich”, sei
~Dunzutreffend”, sagte Vizeregierungssprecher Thomas Steg dem
Tagesspiegel: ~DEs ist eine ausgewogene Resolution.” Steg bestritt
auch, dass sich Schroder der turkischen Haltung in der Armenierfrage
angeschlossen habe. ~DDer Bundeskanzler hat immer seine eigene
Position deutlich gemacht”, sagte er: ~DInsofern ist die EnttĂ€uschung
uber diese Resolution unverstĂ€ndlich.” Gerade die Deutschen wussten,
dass die Aufarbeitung historischer Schuld und die Bereitschaft zur
Versohnung und zum Verzeihen unverzichtbar seien, ~Dum eine gute und
friedliche Zukunft der Volker zu gestalten”.
Bei einer vom Zentralrat der Armenier organisierten Podiumsdiskussion
am Donnerstagabend in Berlin kritisierten Wissenschaftler den
Bundestagsbeschluss als inkonsequent. Der Hamburger Juraprofessor
Otto Luchterhandt sprach von ~DSchizophrenie”. Fur den ~DHausgebrauch”
in Deutschland werde der Begriff Volkermord benutzt, gegenuber der
Turkei aber vermieden. Der Bundestag sei zuruckgewichen hinter einem
~Daggressivem turkischen Nationalismus”, habe die Turkei ~Dzu schonend
angepackt”. Mihran Dabag vom Institut fur Genozidforschung in Bochum
sagte, gegenuber der Leugnung des Volkermords hÀtte das deutsche
Parlament eine ~Dganz klare Haltung” einnehmen mussen. Der
SPD-AuĂenpolitiker Markus Meckel sagte, mehr sei nicht moglich
gewesen. Der CDU-Abgeordnete Christoph Bergner meinte, es gehe darum,
ein ~DUmdenken in der Turkei” zu erreichen. Bergner will sich
gemeinsam mit der CDU-Bildungspolitikerin Katherina Reiche an die
Kultusministerien der unionsregierten LĂ€nder wenden, damit die
Vernichtung der Armenier moglichst in allen LĂ€ndern im
Schulunterricht behandelt wird. Bisher steht das Thema nur in
Brandenburg auf dem Lehrplan.
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