“J’accuse” oder “Germinal”? Literatur und Politik in der Turkei

Frankfurter Allgemeine Zeitung
25. Juni 2005

Wer Geschichte fälscht, ist verkrüppelt;
“J’accuse” oder “Germinal”? Literatur und Politik in der Türkei

von Ahmet Altan

Wenn ein wichtiger Schriftsteller aus der Türkei einen der
angesehensten Preise der Welt zugesprochen bekommt und dann jemand
aus Deutschland in Istanbul anruft und fragt, wie denn die Reaktionen
auf diesen Preis in der Türkei seien, positiv oder negativ, dann
haben wir offensichtlich ein Problem. Warum fällt einem als erstes
die Frage ein, ob man es in der Türkei als Ausdruck von Freundschaft
oder von Feindschaft versteht, wenn Orhan Pamuk, ein Autor der
allerersten Güte, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält?

Sie fällt einem ein, weil solche Fragen begründet sind. Heute hat in
der Türkei kaum jemand Zweifel an Pamuks literarischer Qualität. Wenn
heute hinterfragt wird, warum er ausgezeichnet wird, wenn ein
Schatten auf diesen Preis fällt, von dem ich glaube, daß ihn Pamuk
wahrlich verdient hat, dann hat Literatur damit nichts zu tun.

Dafür verantwortlich sind der türkische Mangel an Mut, Tatsachen zu
akzeptieren, und die europäische Geringschätzung der Literatur. Die
Türkei ist ein Land, das seinen Kindern seine Geschichte falsch
beibringt. In diesem Land lernt kein Kind in der Schule, daß in einer
vergangenen Zeit Türken Armenier auf eine blutige Reise über die
Schwelle des Todes geschickt haben.

Wenn eines Tages jemand diese Wahrheit in schlichten Worten
ausspricht, sind die ersten Reaktionen unausweichlich der Aufschrei:
“Das ist gelogen!” Wer so schreit, hat auf seine Weise sogar recht,
denn ihm wurde nie etwas von diesen Dingen erzählt. Der ist nämlich
davon überzeugt, daß jemand, der so etwas sagt, ein Feind der Türken
ist. Daß eine ganze Menge Türken glauben, die Welt hasse die Türken,
liegt an der erbärmlichen Unkenntnis ihrer Geschichte, daran, daß sie
unwissend gehalten werden. Das ist der erste Grund für die Reaktionen
auf Pamuks mutige Äußerungen zum Problem der Armenier.

Der andere ist der bedauerliche Mangel an Liebe zur Literatur, der
bei den Europäern in letzter Zeit zu beobachten ist. Europa erweckt
den Eindruck, als messe es Autoren, die außerhalb seines Territoriums
leben, mehr an ihrem politischen Mut als an ihrem literarischen Wert.
Politischer Mut sammelt mehr Applaus als literarischer Wert. Die
Europäer geben ein so seltsames Bild ab, als würden sie, wenn Émile
Zola Pakistani wäre, sein “J’accuse” für wichtiger halten als
“Germinal”.

Kein wahrer Schriftsteller wünscht sich, daß sein politischer Mut
seinen literarischen Wert verdunkelt, sondern findet so etwas
vielmehr beschämend. Aber manchmal werden Schriftsteller mit solchem
Leid konfrontiert, daß sie nicht anders können, als mit einem
Aufschrei die Menschen aufzuwecken, und daß sie versuchen, das
Gewissen der Leute aufzustören, um menschlichen Schmerz zu lindern.
Daß sie das tun, erhöht ihren literarischen Rang nicht; und wenn sie
es nicht tun, wird er nicht gemindert. Sie tun so etwas, weil sie
keine Wahl haben.

Aber daß Europa sein Ohr mehr dem politischen Aufschrei öffnet als
dem feinen Flüstern der Literatur, weckt bei den Leuten Zweifel. Sie
fragen sich: “Interessiert sich Europa für einen Schriftsteller, der
mich kritisiert, weil er die Wahrheit sagt und mich so in
Schwierigkeiten bringt, oder weil es seine Literatur schätzt?” Und
die das Sagen im Lande haben, stacheln solche Verdächtigungen
schamlos auf.

Daß Pamuk diesen wohlverdienten Preis gleich nach der Diskussion um
die Armenier erhält, führt leider zu mißgünstigen Verdächtigungen.
Nicht wenige rümpfen die Nase wegen dieser Auszeichnung und
unterstellen ihr außerliterarische Motive. Ich glaube, dieser Preis
würde Deutsche, Türken und auch Pamuk glücklicher machen, wenn die
Türkei ihrer eigenen Vergangenheit nicht so unwissend gegenüberstünde
und ihre Schriftsteller, die Tatsachen aussprechen wollen, nicht dazu
verurteilte, “mutig zu sein”, und wenn Europa eine Liebe zur
Literatur demonstrierte, die die Leute davon überzeugte, daß sie nur
mit literarischen Maßstäben gemessen wird.

Bedauerlicherweise durchleben wir eine Zeit der Defekte. Jede
Gesellschaft hat ihre eigenen Defekte. Die Türkei ist durch die Lügen
über ihre eigene Vergangenheit verkrüppelt. Europa ist behindert,
weil es mit der Taubheit von jemandem, der seine Kreativität
weitgehend verloren hat, dazu neigt, politischen Heldenmut in anderen
Ländern wichtiger zu nehmen als Literatur. All diese Defekte werden
am Ende in der Literatur gespiegelt.

Ein wertvoller Schriftsteller wie Pamuk, der der Stolz der Türkei
sein müßte, wird mit ungerechtfertigten Unterstellungen gepeinigt,
eine hohe Auszeichnung von Zweifeln überschattet. Es ist nicht
leicht, Defekte schnell zu beheben, aber wenn Europa glaubwürdiger
macht, daß es die Literatur nur als Literatur sieht, dann tut es
etwas dafür, einen so wichtigen Schriftsteller wie Pamuk, der keines
außerliterarischen Maßes bedarf, vom Zwielicht ungerechtfertigter
Anschuldigungen zu schützen.

Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann.

Der Schriftsteller Ahmet Altan wurde 1950 in Istanbul geboren. Auf
deutsch erschien sein Roman “Der Duft des Paradieses”.