Erinnerungen an Alis historische Kieferbruchnacht

Box-WM: Erinnerungen an Alis historische KieferbruchnachtDie Welt

Box-WM
Erinnerungen an Alis historische Kieferbruchnacht

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Acht Runden mit gebrochenem Kiefer, blutspuckend, schwer atmend, mit
unertraglichen Schmerzen – willkommen in der Holle. Was halt ein Mensch aus?

Das ist die eine offene Frage nach diesem Schlachtfest, das die Grausamkeit
und Faszination des Boxens gleichermaßen belegt. Die andere ist die
Gewissensfrage: Wann stoppe ich einen Kampf?

Von Oskar Beck

Normalerweise platzt jeder Boxer vor Stolz, der mit Muhammad Ali verglichen
wird. Nur der deutsche Mittelgewichts-Weltmeister Arthur Abraham hatte auf
das Kompliment in der Nacht zum Sonntag lieber verzichtet. Es kam vom
Ringarzt.

Walter Wagner sah Abraham und stohnte: "Wie bei Ali." Spontan hat er sich an
"battle of the broken jaw" erinnert, die historische Kieferbruchnacht anno ’73,
als Ali mit dem Kinn voraus in einen Lastwagen namens Ken Norton lief. Und
so war es jetzt wieder. Nur schlimmer. Und blutiger.

Der Ringrichter sah aus, als sei er einem Blutbad entronnen, der
Fernsehreporter konnte seine Notizen kaum noch entziffern, und sogar daheim
vor dem Bildschirm hat man sicherheitshalber das Sofa zwei Meter nach hinten
verschoben und den Regenschirm aufgespannt. Im Ubrigen stellt sich nach
dieser denkwurdigen WM-Nacht von Wetzlar die Frage, ob die ARD fur das Boxen
noch der richtige Sender ist oder ob dieser Sport kunftig nicht
verschlusselt ausgestrahlt werden muss, mit Senioren- und Kindersperre.

Immerhin hat Abraham die Sache uberstanden, und zwar wie durch ein Wunder
so, dass man ihn sogar als Weltmeister zur Notoperation ins Krankenhaus
bringen konnte. Die Krone, mit der er als Konig Arthur vor dem Kampf noch
stolz einmarschiert war, ließ er allerdings achtlos liegen, sie hatte nicht
mehr auf seinen geschwollenen Kopf gepasst.

Auch zum Lachen war ihm nicht mehr zumute – schon im Kampf hatte er aus
Angst vor Schmerzen nicht das Gesicht verzogen, als ihn Ringrichter Randy
Newman in jeder Runde fragte: "You’re okay?" Absurder kann keine Frage
klingen: acht Runden mit gebrochenem Kiefer, blutspuckend, schwer atmend,
mit unertraglichen Schmerzen – willkommen in der Holle.

Was halt ein Mensch aus? Das ist die eine offene Frage nach diesem
Schlachtfest, das die Grausamkeit und Faszination des Boxens gleichermaßen
belegt. Die andere ist die Gewissensfrage: Wann stoppe ich einen Kampf?

Der Ringrichter wollte abbrechen. Er hatte Abraham zum Sieger durch
Disqualifikation erklart, aufgrund eines gemeingefahrlichen, absichtlichen
Kopfstoßes seines Gegners – doch der Oberschiedsrichter ließ weiterboxen.

Das Boxen lebt vom Thrill. Vom Spektakel solcher Manner, die um die Chance
ihres Lebens kampfen. Edison Miranda, der Gegner, Spitzname "La Pantera",
kommt aus dem Ghetto der Armut und des Hungers. Zu seiner Befreiung gehoren
Tiefschlage und Kopfstoße. Aggressiv, gewalttatig, animalisch hat er zwar
kein Ohr abgebissen, aber Abrahams Kiefer gespalten – doch der
Oberschiedsrichter zwang den Verwundeten zum Weiterboxen.

Aufstecken? Den WM-Gurtel an der Garderobe abgeben? Das Gluck wegwerfen? Als
Avetik Abrahamyan ist er einst aus Armenien gekommen und hat sich im
Bezirksamt Berlin-Charlottenburg einen deutschen Pass, einen deutschen Namen
und einen Kunstlernamen besorgt, um die Herzen von uns Deutschen zu erobern,
was schwer genug ist (man muss nur Dariusz Michalczewski fragen) – und dann
aufgeben?

Ja, auf sich allein gestellt hatte er mit seinen Schmerzen wohl kapituliert.

Wie sogar der große Ali es einmal am liebsten getan hatte, gegen Joe
Frazier, 1975, im "Thrilla in Manila". Nach der 14. Runde war er fertig, am
Ende, groggy. "Cut them off", flehte der Großte seinen Trainer Angelo Dundee
an, schneid die Handschuhe auf, mach Schluss. "Wir warten noch", sagte
Dundee. Im nachsten Moment gab Frazier, halb bewusstlos, in der anderen Ecke
auf. Boxen ist ein Spiel auf dem Drahtseil, mit der Gesundheit und dem
Gluck. Hinterher sagte Ali: "Ich habe den Tod gesehen."

Was hat Arthur Abraham am Ende noch gesehen im Schmerz? Vermutlich hat auch
er nur noch seinen Trainer Wegner ("Halt durch!") gehort oder den Promoter
Sauerland, der sich vor lauter Schreien ("Du schaffst es!") fast auch noch
den Kiefer gebrochen hatte – und um ein Haar jetzt ebenfalls flussig ernahrt
werden musste, mit Hilfe der Schnabeltasse.

Jedenfalls hat Gevatter Abraham uberlebt. Er hat diesen Straßenkampfer,
seinen inneren Schweinehund und alle Schmerzen besiegt und diese blutige
Nacht des Kieferbruchs zum Durchbruch genutzt in die Heldengalerie des
deutschen Sports – und als nachstes wird er, sagt der Trainer vaterlich,
jetzt gesund gepflegt.

Sobald Konig Arthur dann wieder halbwegs in der Lage ist, die 320.000 Euro
Schmerzensgeld zu zahlen und seinen ersten dicken Kampfvertrag in der
Millionenliga zu unterschreiben, wird er allen danken, die ihn in dieser
Nacht ohne Rucksicht auf seine Gesundheit zum Gluck gezwungen haben.

Das ist Boxen.

Artikel erschienen am 24.09.2006
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