Turken sehen eine "Kriegserklarung"
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Der Vorwurf des Volkermordes an den Armeniern und das franzosische
Genozid-Gesetz versetzen die Turkei in Rage
Auch fast ein Jahrhundert nach den Ereignissen lost der Vorwurf des
Volkermords an den Armeniern in der Turkei noch heftige Reaktionen aus. Denn
die Turken sehen keinen geplanten Genozid, sondern sprechen von Opfern der
Kriegswirren.
Massiver diplomatischer Druck fruchtete so wenig wie die offene Drohung des
turkischen Premiers Erdogan, die Turken wurden nichts, aber Frankreich werde
die Turkei verlieren. Die franzosische Nationalversammlung stellte gestern
die Behauptung unter Strafe, die Massaker an den Armeniern durch die
osmanischen Turken vor 90 Jahren seien kein "Volkermord" gewesen (vgl. Text
unten). Turkische Politiker, unterstutzt von Medien und der Bevolkerung,
sind emport. Kein franzosischer Geschaftsmann, so droht ein Sprecher der
Istanbuler Industriellenkammer, soll kunftig in der Turkei Vertrage
abschliessen konnen. Wahrend turkische Politiker von einer "Kriegserklarung"
Frankreichs gegen ihre Heimat sprechen, ruft der Industriellenverband nach
einem nationalen Aktionsplan, mit dem die Turkei der Welt klar machen soll,
dass sich Frankreich geirrt habe.
Turkische Medien sehen die Entscheidung Frankreichs im Zusammenhang mit
einer wachsenden anti-turkischen Stimmung in Europa. "Die Opposition gegen
die Turkei in der EU beginnt ihr hassliches Gesicht zu zeigen", schreibt der
Kommentator Cengiz Candar. Erdogan erinnert Frankreich an seine koloniale
Vergangenheit, betont jedoch, er wolle nicht Vergeltung uben. "Wir saubern
Schmutz nicht mit Schmutz." Selbst Mitglieder der winzigen armenischen
Gemeinde der Turkei (kaum mehr als hunderttausend Menschen) schliessen sich
der Kritik an. Sie furchten nun noch starkeren Druck durch eine
nationalistisch aufgeheizte Stimmung im Land.
Die Entscheidung zeige, "dass jene, die die Meinungsfreiheit in der Turkei
einschranken, und jene, die dies in Frankreich tun, dieselbe Mentalitat
haben", bemerkt der turkisch-armenische Journalist Hrant Dink. Er war im
Vorjahr wegen "Beleidigung des Turkentums" zu sechs Monaten Gefangnis
verurteilt worden. Die Strafe, die er sich wegen eines Artikels uber die
Massaker an den Armeniern zugezogen hatte, wurde unterdessen suspendiert.
"In der Turkei stehe ich vor Gericht, weil ich gesagt habe, es sei Genozid
gewesen." Er wolle nun nach Frankreich gehen und dort – entgegen seiner
Uberzeugung – sagen, es sei nicht Genozid gewesen. Denn die Meinungsfreiheit
habe Vorrang. "Die beiden Staaten konnen dann wetteifern, wer mich ins
Gefangnis wirft."
3000 Jahre alte Gemeinde
Auch fast ein Jahrhundert nach den dramatischen Ereignissen im
zusammenbrechenden Osmanischen Reich lost der Vorwurf des Genozids in der
Turkei immer noch heftige Emotionen aus. Bis heute ist eine objektive
wissenschaftliche Diskussion uber dieses Thema undenkbar. Autoren, die sich
zum Volkermord bekennen oder sich nur vage kritisch mit der offiziellen
turkischen Position auseinander setzen, werden mit Gefangnis bedroht, von
turkischen Nationalisten sogar mit dem Tod. Eine derartige Kampagne musste
auch der Schriftsteller Orhan Pamuk durchstehen. Seine Auszeichnung mit dem
Literatur-Nobelpreis (vgl. Seite 33) ist zweifellos ein zusatzlicher Schlag
fur die radikalen turkischen Nationalisten.
3000 Jahre lang lebte eine bluhende armenische Gemeinde in der Region, die
sich vom Schwarzen Meer und dem Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer
erstreckte. Im Gebiet um den Berg Ararat grundeten die Armenier den ersten
christlichen Staat der Welt, der schliesslich Teil des Osmanischen Reiches
wurde. Obschon als christliche Minderheit in diesem riesigen Reich
diskriminiert, erreichten die Armenier einen hohen Bildungstandard.
Beeinflusst von den Idealen der Franzosischen Revolution, drangten sie im
ausgehenden 19. Jahrhundert nach politischen Reformen, nach Demokratie und
Mitbestimmung.
Armenier als interner Feind
Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs wuchs ihre Hoffnung auf einen
unabhangigen Staat. Doch als die Jungturken das Reich zu retten und alle
Turk-Volker bis zum Kaukasus und Zentralasien zu vereinen suchten, standen
ihnen die christlichen Armenier als grosstes Hindernis im Wege. Im Ersten
Weltkrieg schlug sich die Turkei auf die Seite Osterreich-Ungarns und
Deutschlands, wahrend die Armenier mit Russland kollaborierten. So wurden
sie fur die turkischen Nationalisten zu einem internen Feind.
Die Kriegswirren boten die willkommene Moglichkeit, die armenische Frage "zu
losen". Armenische und viele unabhangige internationale Historiker hegen
keine Zweifel, dass die osmanischen Turken 1915 bis 1917 einen Genozid
geplant und mehr als eine Million Armenier getotet und den Rest vertrieben
haben, so dass heute in ihrer ost-anatolischen Urheimat fast keine Armenier
mehr leben. Fast alle turkischen Historiker geben zu, dass viele Armenier
wahrend dieser Konflikte ums Leben kamen. Doch sie schliessen sich der
offiziellen Position an, dass es sich nicht um einen vom Staat geplanten
Genozid gehandelt habe. Offiziell beharrt Ankara auf dem Standpunkt, dass in
den Kriegswirren rund 300 000 Armenier und ebenso viele Turken ums Leben
gekommen sind.
Die Anerkennung des Genozids wurden turkische Nationalisten nicht nur als
schwere nationale Demutigung werten. Diese Frage ist auch mit tief
verwurzelten Ängsten verknupft. Ankara befurchtet, die Armenier konnten
Kompensationsforderungen oder gar territoriale Anspruche auf ihre
sudostanatolische Heimat stellen. Im turkischen Nationalbewusstsein bleibt
deshalb bis heute der Armenier ein Feind. Und in der Haltung Frankreichs
sieht Ankara eine neue internationale Verschworung gegen die Heimat.
Blochers Mission
Auch die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Turkei sind wegen der
Leugnung des Volkermords an den Armeniern angespannt. Die
Anti-Rassismus-Strafnorm stellt die Leugnung des Genozids in der Schweiz
unter Strafe. Aufgrund dieses Gesetzes laufen zwei Strafuntersuchungen gegen
prominente Turken, die den Volkermord an den Armeniern offentlich geleugnet
haben. Justizminister Christoph Blocher nutzte vergangene Woche seinen
Turkei-Besuch, um die Strafnorm zu kritisieren. Blochers Provokation sorgte
in der Heimat fur Emporung. Der Justizminister strebt eine Änderung des
Antirassismusgesetzes an.
Der Bundesrat wird sich bereits an seiner Sitzung von kommender Woche mit
Blochers Vorschlag befassen. Der Antrag durfte jedoch keine Chance haben.
Der Bundesrat hat bereits – in praktisch gleicher Zusammensetzung – mehrere
Anlaufe zur Änderung oder Streichung der Strafnorm abgelehnt. Auch das
Parlament liegt in dieser Frage auf der Linie des Bundesrats. (for)
"Im Namen der Gerechtigkeit"
Wer den Volkermord an den Armeniern von 1915 in Abrede stellt, soll in
Frankreich mit Gefangnis oder Busse bestraft werden. Das umstrittene Gesetz
muss nach dem Ja der Nationalversammlung noch vom Senat genehmigt werden.
"Im Namen der Gerechtigkeit, der Ehre und des politischen Mutes" forderte
gestern der sozialistische Antragsteller Rene Rouquet seine
Parlamentskollegen auf, fur das Gesetz zu stimmen, das die Leugnung des
Armenier-Volkermords zu einem Delikt erklart. Fur Rouquet ist die
Strafandrohung nur logisch. Am 29. Januar 2001 hatte namlich das
franzosische Parlament einstimmig den Genozidcharakter der Massaker an der
armenischen Bevolkerung von 1915 bis 1917 anerkannt, denen laut (fast)
einhelliger Schatzung der Historiker mehr als eine Million Menschen zum
Opfer fielen.
Die Notwendigkeit, jeden strafrechtlich zu verfolgen, der diesen Volkermord
in Abrede stellt oder verharmlost, blieb indes umstritten. Im Mai hatte die
Nationalversammlung den Antrag der Opposition bereits debattiert, aus
Zeitgrunden wurde das Votum verschoben. Weniger offen ausgesprochen wurden
damals und auch jetzt eher opportunistische Rucksichten auf politische und
wirtschaftliche Interessen in der Turkei. Dieses Mal stimmte nach einer
kurzen Diskussion eine Mehrheit der anwesenden Abgeordneten (mit 106 Stimmen
gegen 19) dem Gesetzesantrag zu.
Gesetz noch nicht in Kraft
Die Regierungspartei UMP hatte beschlossen, an der Abstimmung nicht
teilzunehmen; trotzdem sprachen sich mehrere ihrer Volksvertreter fur das
Gesetz aus, unter ihnen auch der fruhere Minister und UMP-Abgeordnete
Patrick Devedjian, der selber armenischer Abstammung ist. Er versuchte, die
Tragweite des Parlamentsentscheids etwas abzuschwachen: Historiker und
Forscher sollten seiner Meinung nach von der Strafandrohung ausgenommen
werden. Sein Vorschlag wurde aber zuruckgewiesen. Auf der Zuhorertribune
begrussten Vertreter der armenischen Gemeinschaft, die in Frankreich rund
500 000 Menschen zahlt, das Abstimmungsergebnis erleichtert mit Applaus.
Damit ist diese Gesetzesvorlage aber noch nicht in Kraft. Nun liegt es an
der Regierung, die Debatte zum gegebenen Zeitpunkt auf die Tagesordnung des
Senats, der zweiten Parlamentskammer, zu setzen. Und nichts deutet darauf
hin, dass sie es dabei besonders eilig hat. Ohne die turkischen Einwande und
Drohungen zu erwahnen, hatte bei der gestrigen Debatte Europaministerin
Catherine Colonna die Skepsis der Regierung zum Ausdruck gebracht: "Es ist
Aufgabe der Historiker und nicht des Gesetzgebers, die Geschichte zu
schreiben." Die Linke warf der Regierung vor, sie beuge sich den Pressionen
aus Ankara. Die Turkei droht Frankreich mit wirtschaftlichen
Vergeltungsmassnahmen. Laut turkischen Zeitungen konnten sich die Einbussen
fur die franzosischen Unternehmen auf 20 Milliarden Dollar belaufen, wenn
sie systematisch bei Vertragen ausgeschlossen wurden.
Kritisch hatten sich die meisten franzosischen Zeitungen zum Thema
geaussert. "Le Figaro" halt die Debatte fur zwecklos und riskant: "Die
(Leugnung) ist in Frankreich nicht so verbreitet, dass es unbedingt ein
Gesetz dafur braucht. Da gabe es andere Angelegenheiten, die mit grosserer
Dringlichkeit dem weisen Schluss unserer Abgeordneten zu unterbreiten waren.
Die politische Ausschlachtung der Schrecken, welche das armenische Volk
erlitten hat, kann nur kontraproduktiv sein. (…) Frankreich ist gross,
wenn es als Botschafter des Friedens und der Zivilisation auftritt, aber
lacherlich, wenn es sich als Staatsanwalt aufspielt."
"Unnotige Polemik"
Als "unnotige Polemik" hatte Staatsprasident Jacques Chirac die
Kriminalisierung der Volkermordleugnung bezeichnet. Noch Ende September
hatte er bei seinem Besuch in Armenien die offizielle Anerkennung des
Armenier-Genozids durch den turkischen Staat zu einer Voraussetzung fur
einen eventuellen EU-Beitritt der Turkei erklart.
Fur Genozid braucht es Absicht
Den Tatbestand des Volkermords (Genozid) gibt es im Volkerrecht seit
Dezember 1948, als die Vereinten Nationen die "Konvention uber die Verhutung
und Bestrafung des Volkermords" verabschiedeten. Die Konvention, die 1951 in
Kraft trat, entstand in erster Linie als Reaktion auf den Holocaust unter
den Nazis im Zweiten Weltkrieg. Sie beschreibt Volkermord als Handlungen,
die in der expliziten Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische,
rassische oder religiose Gruppe ganz oder teilweise zu zerstoren.
An diesem Punkt setzt die Kritik der Turkei an. Sie sieht die Massaker an
den Armeniern und die Todesmarsche nicht als bewusst rassistisch motivierte
Gewalt, sondern als Folge kriegerischer Ereignisse. Die meisten
internationalen Historiker und Juristen argumentieren indes, dies sei
unerheblich; die Armenier seien getotet worden, weil sie eben dieser
Volksgruppe angehorten. Ob Rassenwahn wie bei den Nazis oder andere Motive
die Graueltaten ausgelost hatten, spiele letztlich keine Rolle. (lkr)
Der Bund, Birgit Cerha, Beirut [13.10.06]
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From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress