In der Turkei ist die Debatte schon weiter

Die Tageszeitung,
taz Nr. 8173 vom 12.1.2007

"In der Türkei ist die Debatte schon weiter"

Der Linksparteipolitiker Hakki Keskin hat den Völkermord an den
Armeniern 1915 angezweifelt – und einen Skandal provoziert. Das
Wichtige aber passiert in der Türkei, wo sich das Armenien-Tabu
lockert, meint Cem Özdemir

taz: Herr Özdemir, der Ex-Chef der türkischen Gemeinde und
Linksparteipolitiker Hakki Keskin behauptet, dass es "keine Belege für
einen Völkermord" an den Armeniern in der Türkei 1915 gebe. Hat er
Recht?

Cem Özdemir: Die Mehrheit der Historiker bezeichnet das, was 1915
passierte, als Völkermord. Und es gibt keinen seriösen Historiker, der
zweifelt, dass es 1915 zumindest ethnische Säuberungen gab. Gerade
linke Politiker sollten Empathie für die Opfer zeigen und dem
Nationalismus eine Absage erteilen. Das sieht man bei der Linkspartei
offenbar anders. Die Linkspartei soll ein ganz großes Bündnis sein,
bei dem sich PKK-Sympathisanten als auch türkische Nationalisten wohl
fühlen können.

Die Linksfraktion hat jüngst erklärt, dass es einen "Völkermord" an
den Armeniern gab: Das ist doch eindeutig.

Trotzdem: Die PDS kalkuliert doch bewusst mit Figuren wie Keskin, um
nationalistische türkischstämmige Wähler einzusammeln – und versucht
gleichzeitig ultralinke PKK-Sympathisanten zu gewinnen. Ich würde mich
nicht wundern, wenn sie demnächst noch einen Vertreter der armenischen
Diaspora aufstellt.

Es geht aber nicht nur um die Linkspartei. Keskin sagt, was die
Mehrheit der Deutschtürken denkt. Kein Wunder, dass türkische Gemeinde
und Ditib sich mit ihm solidarisieren.

Die repräsentieren nicht automatisch die Mehrheit der
Deutschtürken. Aber ich glaube, wir sollten die Debatte vom Begriff
des Völkermordes zunächst lösen. Denn das führt zu falschen
Solidarisierungen. Wenn man sagt, dass sich 1915 schreckliche Dinge
ereignet haben, stößt man in der türkischen Community viel eher auf
offene Ohren. Mein Freund Hrant Dink schrieb mal: "Wenn die Armenier
heute noch leben würden, wäre Van das Paris des Ostens". Dies
verstehen auch konservative Türken, weil sie wissen, dass es stimmt.

Dass sich 1915 Schreckliches ereignet hat, leugnen weder Keskin noch
der türkische Staat. Sie sagen: Es sind hunderttausende Armenier
gestorben, aber auch viele Türken. Es gab keine geplante Vernichtung,
die Armenier wurden letztlich zufällig Opfer der Verhältnisse im
Ersten Weltkrieg.

Aber Sie müssen doch sehen, dass sich in der Türkei derzeit viel
ändert. In Fernsehdiskussion treten auch armenische Journalisten und
Publizisten auf. Dort gibt es vorsichtige Lockerungsübungen, die bei
der türkischen und übrigens auch der armenischen Diaspora in
Deutschland noch nicht richtig angekommen sind. In der Türkei ist man
mitunter weiter als die Keskins hierzulande, die noch immer altes
Denken verbreiten. In der Türkei werden heutzutage in TV-Debatten
Positionen vertreten, mit denen ich hierzulande in der türkischen
Community manchmal auf Unverständnis stoße.

Überschätzen Sie den Öffnungsprozess in Türkei nicht? Wer dort von
Genozid an den Armeniern redet, kommt doch immer noch vor Gericht!

Aber sie werden, anders als vor ein paar Jahren, nicht mehr
verurteilt. Ich bin überzeugt: In zehn Jahren wird sich die offizielle
Haltung der Türkei zu 1915 ganz weitgehend verändert haben.

Woher der Optimismus?

Die Türkei hat auch ihre Haltung zu den antigriechischen Pogromen 1955
revidiert. Auch die Tatsache, dass es für die jüdische Minderheit
während des Zweiten Weltkrieges eine Kopfsteuer gab, wird nicht mehr
tabuisiert – es laufen Filme darüber im TV. So wird es auch eine
Neubewertung von 1915 geben – angestoßen nicht primär von der
Regierung, sondern der Zivilgesellschaft. Die Akteure dieser
Zivilgesellschaft müssen wir stärken. Was den Begriff Völkermord
angeht, so teile ich die Ansicht meines armenischstämmigen Freundes
Etyen Mahcupyan, der gesagt hat: Die Türkei sollte anerkennen, dass es
ein Völkermord war – und Armenien sollte aufhören, darauf zu beharren,
dass die Türkei den Völkermord anerkennt.

Ein salomonische Haltung. Keskin und andere fordern dagegen immer
wieder eine türkisch-armenische Historikerkommission. Das erinnert ein
wenig an den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, der ja auch erst
mal nachgewiesen haben möchte, dass es den Holocaust wirklich
gab. Dient diese Forderung also nicht dazu, die historischen Fakten
auf ewig mit einem Fragezeichen zu versehen?

Nein, die Forderung ist nicht nur falsch. Dieser Vorschlag stammt
ursprünglich von damaligen armenischen Präsidenten Ter-Petrosjan, der
eine Verständigung mit der Türkei wollte. Die Türkei hat den Vorschlag
in den frühen 90er-Jahren brüsk abgelehnt. Ter-Petrosjan zielte mit
dieser Kommission auf einen Prozess, der die Öffnung der Grenzen
zwischen der Türkei und Armenien eingeschlossen hätte. Er hat später
jedoch die Wahl verloren – auch weil er als zu türkenfreundlich
galt. Jetzt hat sich der türkische Premier Erdogan die Forderung nach
der Historikerkommission zu eigen gemacht, und nun knüpfen die
Armenier die Kommission an Bedingungen. Aber – in der
türkisch-armenischen Beziehung ist diese Kommission nicht obsolet.

Also wäre so eine Kommission sinnvoll?

Ja, weil sie es der Türkei erleichtern könnte, die Ereignisse von 1915
neu zu bewerten. Wir übersehen oft, dass die freie, offene Debatte der
Bürgergesellschaft für die Türkei etwas Neues ist. Armenien war dort
bis vor kurzem noch ein Tabuthema, über das gar nicht geredet wurde –
oder wenn, dann nur in Propagandafloskeln. Alles, was mehr Aufklärung
bringt, ist nützlich.

Dann hat Keskin in diesem Punkt also Recht?

Ja – aber nur, wenn er die Forderung nach der Historikerkommission mit
der Forderung nach der Abschaffung des Paragrafen 301 verbindet, der
die Meinungsfreiheit einschränkt. Zudem muss die türkische Grenze zu
Armenien geöffnet werden, und die Diskriminierung von Christen, auch
armenischen, in der Türkei muss aufhören. Als Teil dieses Prozesses
kann eine Kommission sinnvoll sein.

Wie soll man in Europa mit den Leugnern des Verbrechens von 1915
verfahren? In Frankreich steht die Leugnung des Genozids unter
Strafe. In den Niederlanden müssen alle türkischstämmigen Politiker
bekunden, dass sie den Genozid anerkennen. Ist das richtig?

Nein. Gesetze wie in Frankreich führen zu falschen
Solidarisierungen. Die Falken in der Türkei haben das französische
Gesetz als Rechtfertigung benutzt, um ihren Paragrafen 301 zu
verteidigen. Nach dem Motto: Dort muss man Genozid sagen, bei uns darf
man es nicht sagen. In den Niederlanden müssen Kandidaten einzig und
allein aufgrund ihrer Herkunft eine Erklärung zur Armenierfrage
abgeben. Das ist falsch. Oder Belgien: Warum soll man von jemandem,
der als Politiker in Brüssel für Städtebau zuständig ist, eine solche
Erklärung einfordern? Nur weil seine Vorfahren aus dieser Region
kommen? So schafft man doch gerade erst ethnische Zuordnungen. Und
genau das sollte linke Politik doch vermeiden.

Also soll man Keskin kritisieren, ihm aber keine Sanktionen androhen?
Ist das nicht ziemlich milde?

Mit Gesetzen wie in Frankreich ist jedenfalls nichts gewonnen. Was man
aber insbesondere von linken Politikern erwarten darf, ist, dass sie
sich nicht zum Instrument des Nationalismus machen. Auch nicht des
türkischen.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE

taz Nr. 8173 vom 12.1.2007, Seite 12, 239 Interview STEFAN REINECKE

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