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Die Turkischen Nationalisten Und Der Mord An Dem Journalisten Hrant

DIE TURKISCHEN NATIONALISTEN UND DER MORD AN DEM JOURNALISTEN HRANT DINK
Von Rainer Hermann

Frankfurter Allgemeine Zeitung
28. Februar 2007 Mittwoch

Return of the Trauma: Turkish Nationalists and the murder of Journalist
Hrant Dink

Ruckkehr der Traumata;

In vielen Kopfen ist der Inhalt der acht großen Reformpakete noch nicht
angekommen. Gesetze allein andern die Mentalitat eines Volkes nicht.

Seit Wochen arbeitet die Turkei den Mord an Hrant Dink auf. Kein Tag
vergeht, ohne dass neue Enthullungen uber Hintergrunde und Hintermanner
des Mordes bekanntwerden. Die Scharfe der Auseinandersetzung zeigt,
wie tief der Graben zwischen den beiden großen Lagern des Landes
ist. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die uber den Mord emport
sind und herausfinden wollen, was im Sicherheitsapparat ihres Staates
los ist. Ihnen stehen jene gegenuber, die im Innern wie im Äußern nur
Feinde des Turkentums wittern und diesen Hass zu einem rassistischen
Nationalismus verformen.

Schnell sind sie bei der Hand, den anderen als "Vaterlandsverrater"
(vatan haini) anzuklagen. Diese Ausgrenzung hat Tradition. Spatestens
seit der erste Bannertrager eines rassistischen turkischen
Nationalismus, der Historiker Nihal Atsiz (1905 bis 1975), den
osmanischen Politiker und liberalen Reformer Sabaheddin Ali (1879 bis
1948) als "Vaterlandsverrater" denunziert hatte. Atsiz war es auch,
der unter Berufung auf den Schutz des Turkentums das Abschlachten der
Armenier gerechtfertigt und den Kurden gedroht hatte, ihnen drohe
das gleiche Schicksal. Jene, die dachten wie Atsiz, verabscheuten
alle, die keine ethnischen Turken seien, kommentiert der liberale
Intellektuelle Murat Belge.

Der Konflikt zwischen den Lagern wurde auch auf Transparenten
ausgetragen. Mehr als 100000 Turken hatten auf einer Strecke von acht
Kilometern mit einem Schweigemarsch von Hrant Dink Abschied genommen.

Nie hatte Istanbul eine großere Demonstration gesehen. Noch vor wenigen
Jahren waren Transparente mit der Aufschrift "Wir sind alle Armenier"
undenkbar gewesen. Bei einer Umfrage der Zeitung Hurriyet stimmten
47 Prozent dieser Aussage zu. Sie sprachen sich damit gegen Gewalt
aus und fur eine offene, pluralistische Gesellschaft.

Unversohnlich war die Antwort der Nationalisten. Im Fußballstadion
von Trabzon, dem Geburtsort des Morders, begnugten sie sich zunachst
mit der Aussage: "Wir alle sind Turken." Dann entrollten sie,
beispielsweise bei einem Fußballspiel in Afyon, Spruchbander mit der
Aufschrift: "Wir alle sind Ogun." Zehntausende bekannten sich zu dem
Morder und waren bereit, es ihm gleichzutun. Ein "Lumpenproletariat"
mit einer turkischen Version des Faschismus sei da entstanden,
furchtet Murat Belge. Andere nennen diese gewaltbereiten Jugendlichen
"Desperados ohne Perspektive".

Gesetze allein andern die Mentalitat eines Volkes nicht. Acht große
Reformpakete hat das turkische Parlament bisher verabschiedet, um
die Gesetze an den Standard Europas anzupassen. In den Kopfen vieler
ist davon nichts angekommen. Die todlichen Schusse eines 17 Jahre
alten Arbeitslosen genugten, um die Turkei in eine neue Sinnkrise zu
sturzen. Alle Traumata, die man habe abwerfen wollen, seien zuruck,
schreibt eine junge armenisch-turkische Journalistin in der Zeitschrift
Tempo. Auch Generationen nach dem 1869 geborenen armenischen Dichter
Tumanyan bleibe dessen Hoffnung unerfullt: "Lebt ihr Kinder, aber lebt
nicht wie wir!" Der militante und rassistische Nationalismus hat in der
Turkei wieder Konjunktur. Im vergangenen Jahr hatte darauf der Film
"Tal der Wolfe" einen Vorgeschmack gegeben und einen tiefen Blick in
die turkische Seele erlaubt. Mit vier Millionen Zuschauern brach er
alle turkischen Kinorekorde. In diesen Tagen findet das "Tal der Wolfe"
als Fernsehserie seine Fortsetzung, und in den Kinos bekampfen in nicht
weniger als drei Filmen gute Turken die bose Welt – in den Komodien
"Amerikaner am Schwarzen Meer" und die "Maskierten Funf" sowie in
dem in Deutschland umstrittenen Film "Der letzte Osmane – Yandim Ali".

Drei Faktoren speisen den rassistisch gefarbten Nationalismus
der Turkei: das Uberlegenheitsgefuhl aus dem Millet-System des
Osmanischen Reichs, die Grundung der Republik Turkei gegen europaische
Besatzer sowie der Widerspruch in der kemalistischen Ideologie des
Staatsgrunders Mustafa Kemal Ataturk, der die Turkei auf das Niveau der
westlichen Zivilisation heben wollte, aber die Macht des autoritaren
Staats vor die Freiheit der Gesellschaft stellte.

Zu Unrecht wird das Osmanische Reich und sein System der Millets
verklart. In ihm organisierte der Vielvolkerstaat seine Nationen
nach ihrer Religionszugehorigkeit. Gewiss hatten die Nichtmuslime
mehr Rechte als zur gleichen Zeit in Europa die Minderheiten. Die
muslimischen Turken, Araber und Kurden, Tscherkessen und Bosnier
bildeten indes die herrschende Nation (hakim millet). Heute betrachten
sich noch immer viele Turken als die "herrschende Millet".

Sie seien nicht bereit, ihre Privilegien aufzugeben und anderen
die gleichen Rechte einzuraumen, beobachtet der linksliberale
Sozialwissenschaftler Ahmet Insel von der Universitat Galatasaray. So
ahndet das turkische Strafgesetzbuch die "Herabsetzung des Turkentums",
nicht aber eine "Herabsetzung" der Kurden und nichtmuslimischen
Minderheiten der Turkei.

Schwer tragt die Republik Turkei noch immer an einem ihrer
Geburtsfehler: Als Ataturk sie 1923 grundete, hatte er einen Staat, der
Staat hatte aber keine Nation. Der Staat musste sich seine Nation erst
schaffen, was er bis heute versucht. Ismet Inonu, der Weggefahrte und
Nachfolger Ataturks, gab einmal zu, dass der turkische Nationalismus
das einzige Mittel sei, ein homogenes Staatsvolk zu schaffen. Der
turkische Nationalismus war also das Mittel, als Instrument dienten die
Institutionen des Staats, vor allem das Militar und die zentralisierte
Burokratie.

Nicht aus der Gesellschaft kam der Nationalismus, sondern aus einem
autoritaren Staat. Der war als Antwort auf eine doppelte Bedrohung von
außen gegrundet worden: gegen Europa, gegen dessen Besatzer Ataturk
1923 die Republik ausrief, und gegen die Araber, von deren islamischer
Kultur er sich absetzen wollte. Der turkische Nationalismus war stets
auch eine Abgrenzung von Europa. Ihm unterstellen die Nationalisten
bis heute, nichts anderes als die Teilung und Schwachung der Turkei
im Sinn zu haben.

Bis heute hat zudem der Kemalismus seinen inneren Widerspruch nicht
aufheben konnen, gleichzeitig die Hohe der westlichen Zivilisation
erklimmen zu wollen, auf den Pluralismus der Gesellschaft aber zu
verzichten. Zu den Grundungsdoktrinen der Republik gehorte die Idee des
"Halkcilik" (etwa "Populismus"): Das "Volk" sollte eine vollkommene
Einheit sein, ohne soziale Klassen und ohne gesellschaftliche
Spannungen. Als Einheit sollte es den Vorgaben des autoritar fuhrenden
Staates folgen. Das ging in der Epoche des Einparteiregimes (1923
bis 1946) gut, als in Europa die meisten Regime ebenfalls autoritar
waren. Im Kalten Krieg waren die Trager des Staates immerhin zu einer
Wahldemokratie bereit, aber nicht zu Pluralismus.

Erst mit der Globalisierung und der Offnung der Turkei, mit den
Reformen unter Turgut Ozal in den achtziger Jahren und Recep Tayyip
Erdogan in den vergangenen Jahren ist die Turkei demokratischer,
freier und pluralistischer geworden. Der EU-Prozess hat zuletzt die
Polarisierung weiter verscharft: Auf der einen Seite zeigen Parteien
ihren nationalistischen Reflex, die traditionell rechte MHP, die
nationalistisch-islamistische BBP, die national-kommunistische IP,
aber auch die von Ataturk als sozialdemokratische Partei gegrundete
CHP, die sich unter ihrem Vorsitzenden Deniz Baykal zunehmend auf das
nationale Erbe besinnt. Ihnen stehen jene gegenuber, die sich nicht
langer im Namen eines autoritaren Staats ihre Freiheiten beschneiden
lassen wollen und die Transparente mit der Aufschrift tragen: "Wir
alle sind Hrant Dink."

–Boundary_(ID_Ue6FBi2I3FIpSjwoaAmIMw )–

Chaltikian Arsine:
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