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Turkische Autorin Elif Shafak: Zimt und Zyankali – in German

Druckversion – Türkische Autorin Elif Shafak: Zimt und Zyankali – Kultur –
SPIEGEL ONLINE – NachrichtenSPIEGEL ONLINE – 21. Juni 2007, 15:01

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TÜRKISCHE AUTORIN ELIF SHAFAK

Zimt und Zyankali

Von Annette Großbongardt, Istanbul

Ihr Roman "Der Bastard von Istanbul" über die Armenierverfolgung brachte
Elif Shafak den Hass der Nationalisten ein. Nach Morddrohungen und
Verfolgung taucht die türkische Autorin langsam aus ihrer Schaffenskrise
auf.
Der Frauenarzt spricht mit samtiger Stimme, er strahlt Ruhe aus. "Na, na",
tröstet er seine Patientin, während er die Latexhandschuhe überstreift.
"Alles wird gut, machen Sie sich keine Sorgen. In einer Minute ist es
vorbei." Doch die junge Frau beruhigt sich nicht, sie schreit, sie flucht,
dann wird sie bewusstlos. Der Arzt bricht die Abtreibung ab. So wächst im
Bauch der 19-jährigen Zeliha ein kleines Mädchen heran, das nie erfahren
soll, wer es zeugte – dieses Baby ist der "Bastard von Istanbul".

Autorin Shafak: Die Wörter kommen nur langsam zu ihr zurückElif Shafak
verwebt die Geschichte des ungewollten türkischen Kindes mit der
Familiensaga eines armenischen Mädchens in den USA. Die beiden Teenager
begegnen sich und lernen voneinander, indem sie sich der heiklen
Vergangenheit ihrer Familien stellen: den Verbrechen an den Armeniern im
Osmanischen Reich zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Ein hochemotionales, lange
tabuisiertes Thema in der Türkei, mit dem die 36-jährige Autorin einen
überraschenden Erfolg landete.
Monatelang stand der "Bastard" letztes Jahr auf den türkischen
Bestsellerlisten ganz oben. Mehr als 125.000 gedruckte Exemplare, das ist
eine hohe Auflage für die Türkei und reicht an Nobelpreisträger Orhan Pamuk
heran. Shafak gehört einer jungen Schriftstellergeneration an, die mit den
alten Erzähltraditionen des muslimischen Landes bricht und eine frische,
unabhängige Prosa schreibt. Inzwischen liegt ihr Buch auch auf Deutsch vor.
Der Erfolg ihrer Werke in der Türkei ist in Deutschland kaum wahrgenommen
worden, wohl aber, dass ihr der Prozess gemacht wurde. Wegen angeblicher
"Beleidigung des Türkentums" zerrten sie ultranationalistische Anwälte vor
Gericht, weil eine armenische Figur im Roman von "den türkischen
Schlächtern" spricht, die 1915 ihre Familie gemordet habe.
Als vergangenen Herbst die Gerichtsverhandlung begann, hatte Shafak gerade
eine Tochter zur Welt gebracht. Noch im Krankenhaus sah sie in den
Nachrichten die Tumulte vor Gericht – als Zuschauerin ihres eigenen
Prozesses. "Ich werde diese Bilder nie vergessen", sagt sie heute. Sie sah,
wie nationalistische Ultras auf ihr Foto spuckten und sie als "Bastard der
EU" beschimpften. "Dann steckten sie mein Bild und die EU-Fahne in Brand",
erzählt Shafak. "Es war so schizophren, diesen unbändigen Hass, die Gewalt
zu sehen inmitten der Wärme und Fürsorge einer Entbindungsstation".
Mit Bodyguard zum Einkaufen
Wenn sich Shafak heute an den Prozess erinnert, wirkt noch immer ein
Schaudern nach. Wir treffen uns in einem Café außerhalb Istanbuls, sie sieht
schmal und müde aus. Lange konnte sie nicht schreiben, plötzlich waren die
Ideen weg, die Lust zu Erzählen. Nutzlos schlich sie um das Manuskript ihres
neuen Buches herum. Das handelt vom Leben eines jungen Muslimen, der wie in
einem Ghetto lebt. So leicht hat sie doch immer produziert, schon sieben
Bücher geschrieben, davon sechs Romane, als Dozentin in den USA gelehrt,
regelmäßig Kolumnen veröffentlicht. Jetzt kommen die Wörter langsam wieder
zu ihr zurück.
Sie wurde freigesprochen von einem Richter, der die Meinungsfreiheit
hochhielt. Doch dann ermordeten nationalistische Ultras Ende Januar den
armenischen Publizisten Hrant Dink, ein enger Freund Shafaks. Dutzende
Autoren, Intellektuelle, Andersdenkende, die wie Dink wegen des berüchtigten
Türkentum-Paragraphen 301 vor Gericht gestanden hatten, galten nun als
Zielscheibe von Extremisten. Seit längerem schon erhielten sie Hassbriefe,
Morddrohungen, doch jetzt erst sandte die Regierung Polizeischutz. Auch
Shafak hat seitdem einen Leibwächter.
Bei unserem Treffen bleibt er unsichtbar. Sie hat sich von hinten genähert
und so dem Bodyguard Zeit gegeben, sich unauffällig unter das Publikum zu
mischen. Über die Bedrohung will sie nicht reden. Es ist schwer genug, mit
dem Gefühl zu leben, dass irgendwo ein unsichtbarer Feind lauert, bloß keine
unnötige Aufmerksamkeit. Interviews sind eine heikle Sache geworden, sie
passt auf, nichts zu sagen, das sie oder ihre Familie gefährden könnte. "Ist
es nicht absurd, dass man als Schriftsteller gezwungen ist, mit einem
Bodyguard Einkaufen zu gehen?", fragt sie.
Die Schere im Kopf
Orhan Pamuk tauchte nach Dinks Ermordung erstmal in den USA ab, Shafak zog
sich vorübergehend zu Freunden außerhalb der Stadt zurück. Keine Interviews,
Leseauftritte in Deutschland sagte sie ab. Nun kommt sie doch nach
Deutschland – im September will sie beim Literaturfestival in Berlin
teilnehmen.
Mit ihrer Heimat hadert sie trotz allem nicht. "Die Türkei ist ein Land, in
dem einen Worte in Schwierigkeiten bringen können", sagt Shafak, "aber die
Gesellschaft ist vielgesichtig und sehr wandlungsfähig."
Die studierte Politologin, die über "Islam, Frauen und Mystizismus"
promovierte, nimmt sich gerne gesellschaftliche Tabus und kulturelle
Konflikte vor. Sie schrieb über das doppelte Geschlecht eines
Hermaphroditen, die spanische Inquisition, jüdischen und islamischen
Mystizismus, über die Liebe zwischen einer dicken Riesenfrau und einem
Zwergenmann, über Vergewaltigung, Inzest und die Armenierfrage, sie hat sich
für Schwule und Wehrdienstverweigerer eingesetzt.
Zwei ihrer Romane verfasste sie auf Englisch, auch dafür wurde sie von
Nationalisten als Verräterin beschimpft. Nun fürchtet sie sich vor
Selbstzensur. "Die Schere im Kopf, mit der Du deine eigenen Worte
beschneidest, das ist das Schlimmste, das einem Schriftsteller passieren
kann."
Im "Bastard" schreibt Shafak mit lockerer Hand, auch über die Liebe: "Mit
Rose zusammen zu sein, war, als überließe er sich einem ruhig
dahinfließenden Strom, von dem er wusste, dass er ihn nie in die Tiefe
ziehen würde. Ihr beim Pfannkuchenbacken zuzusehen, war einer der
tröstlichsten Anblicke, die das Leben für ihn bereithielt". Ihre schrille
Heldin Zeliha flucht für ihr Leben gern, sie schimpft über Istanbul und die
Osmanen, "die vor langer Zeit Konstantinopel erobert hatten und aus Versehen
geblieben waren". Selbst diesen Satz zeigten die Nationalisten beim
Staatsanwalt an.
In der Armenierfrage will Shafak eigentlich gar nicht provozieren.
Vorsichtig vermeidet sie im Interview das Reizwort Genozid, das im Roman
durchaus vorkommt. Und doch ist ihr Buch ein versöhnliches Werk, das einen
gemeinsamen Weg zwischen Türken und Armeniern sucht. Ausgewogen nimmt sie
beide Seiten aufs Korn, lästert mal über die Türken ("Worüber willst du mit
normalen Türken reden? Selbst die Gebildeten dort sind entweder Ignoranten
oder Nationalisten"), mal erzählt sie Armenierwitze ("Wenn zwei Armenier
sich treffen, gründen sie drei Kirchen"). Ihre Figuren entdecken, dass
Türken und Armenier "neben ihrem Hang zu skurrilen Großfamilien auch sonst
noch einiges gemeinsam haben".
Und doch erspart sie ihren Landsleuten nicht die Konfrontation mit den
Verbrechen. Die Schilderung der Deportationen, als sich die Familie
Stamboulian "auf einem Fußmarsch mit Tausenden durstigen, ausgehungerten,
geschlagenen Armeniern wieder findet, die einen langen, dicken Teppich aus
Schlamm, Erbrochenem, Blut und Exkrementen entlang trotteten", gehört zu den
eindringlichsten Passagen des Buches. Dabei gibt es auch gute Türken, etwa
die Dörfler, die ein armenisches Mädchen vor den Soldaten im Schrank
verstecken.
Buch der Frauen
Shafak ist Feministin, ihr Roman ist ein Buch der Frauen. Die Männer sterben
früh, sind sadistische Väter, brutale Brüder, mäßige Ehemänner. "Bei dir
gibt es gar keine positiven Männerfiguren", beschwerte sich sogar ihr
eigener Mann, der Journalist Eyüp Can Saglik. Doch, einer ist wirklich gut:
der Partner von Zehila, ein kluger, warmherziger Armenier.
Geschickt gliedert die Autorin die Kapitel nach den Zutaten einer
traditionellen türkischen Nachspeise, der Ashure: Zimt, Vanille, Weizen,
Mandeln, getrocknete Feigen, Aprikosen und Granatapfelkerne. Und weil am
Ende ein Mord steht, kommt auch noch Zyankali dazu.
Zumindest der deutsche Leser ist allerdings überfordert, wenn er neben
unaussprechlichen Familiennamen wie "Tchakhmakhchian" auch noch vollkommen
unbekannte Speisen serviert bekommt. Da wird es unfreiwillig komisch, wenn
etwa Großmutter Sushan feststellt: "Diabetes hin oder her, wie könnte man
burma ablehnen?" oder eine der zahlreichen Tanten jubelt: "Wir haben
bastirma aus Erwian bekommen!"
Die große Schwäche des Buches ist, dass es von zu vielen Personen bevölkert
wird und deshalb ständig die Perspektive wechselt. So fehlt den Figuren auch
emotionale Tiefe, und das Buch wird eher zum flott geschriebenen
Themenroman.
Shafak glaubt an die öffentliche Rolle der Literaten. "Ein türkischer
Schriftsteller hat nicht den Luxus, unpolitisch zu sein", sagt sie. Die
Tochter einer Diplomatin und eines Soziologieprofessors wurde in Straßburg
geboren und wuchs vor allem in Europa auf. Sie fing schon als Jugendliche an
zu schreiben, erzählt sie, weil sie sich so einsam fühlte. Fünf Jahre lebte
sie zuletzt in den USA, und sie wird wohl bald wieder auf Reisen gehen: "Ich
bin eine Kosmopolitin, eine Pendlerin zwischen den Kulturen."

Elif Shafak: "Der Bastard von Istanbul", Eichborn-Verlag, 460 Seiten, 22, 90
Euro.

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