DIE WELT
12. Oktober 2007
Türkei reagiert mit Empörung auf Armenien-Resolution
US-Kongress fordert von Ankara Anerkennung des historischen
Massenmordes – Streit belastet Beziehungen – Medien: "Idiotische
Amerikaner"
Von Boris Kalnoky
Istanbul – Als am Mittwoch der außenpolitische Ausschuss des
US-Kongresses zusammentrat, um über eine Resolution zur Anerkennung
des türkischen Genozids an den Armeniern 1915-17 zu befinden, da
herrschten keine Zweifel über den Ausgang der Abstimmung. Wie alle
türkischen Zeitungen empört berichteten, eröffnete der armenische
Patriarch die Sitzung des Gremiums mit einem Gebet. Entsprechend ging
der vorgeschlagene Text durch, mit 27 Jastimmen bei 21 Ablehnungen.
"27 idiotische Amerikaner" titelte die Zeitung "Vatan", wobei man
sich über die Feinheiten des Wortsinnes des Adjektivs "sersem"
streiten kann – es könnte auch als "bekloppt" durchgehen und
umschreibt den Geisteszustand, in den man gelangt, wenn man mit dem
Knüppel auf den Kopf geschlagen wird. Die islamisch orientierte
Zeitung "Vakit" sprach von amerikanischer "Hurerei", das Massenblatt
"Hürriyet" von einem "Gesetz des Hasses". Staatspräsident Abdullah
Gül nannte die US-Politiker "kleinlich" und das Außenministerium
verteilte eine Erklärung, die die amerikanischen Volksvertreter
"verantwortungslos" nennt.
Nun wird die Resolution dem US-Kongress vorgelegt. Er soll
feststellen, dass zwischen 1915 und 1923 das Osmanische Reich
Völkermord an seiner armenischen Bevölkerung beging, wobei 1,5
Millionen Armenier ihr Leben verloren, und dass dies später Adolf
Hitler inspirierte. Wenn die Resolution durchgeht, bedeutet das einen
herben Schlag für die fieberhaften Bemühungen der türkischen
Außenpolitik, das Stigma des Genozidvorwurfs in der internationalen
Arena abzuschwächen.
Das Ringen um die Gunst des Kongresses wurde in Washington zu einer
Schlacht der Lobbyisten. Ankara investierte laut Medienberichten in
den letzten Jahren 13 Millionen Dollar, um sich die Dienste
professioneller Lobbyisten und PR-Agenturen zu sichern. Am Ende wird
all das womöglich ebenso wenig geholfen haben wie die scharfen
Warnungen von US-Präsident George W. Bush, der den Kongress darauf
hinwies, dass eine solche Entscheidung die USA um einen wichtigen
Verbündeten im Nahen Osten und im Kampf gegen den Terror bringen
könnte. Staatssekretär Nicholas Burns kritisierte den Kongress und
äußerte die Hoffnung, der "wertvolle Verbündete" Türkei werde von
"konkreten" Reaktionen absehen.
Freilich, auch die Türkei "hofft", dass der "wertvolle Verbündete"
USA ihr das Messer nicht in den Rücken steckt. Die türkische
Regierung ist bemüht, die politischen Folgen einer Anerkennung des
"Genozids" in möglichst düsterem Licht zu zeichnen. Zu den denkbaren
Folgen gehören die Schließung der amerikanischen Nachschubwege in den
Irak, die Beendigung der amerikanischen Nutzung des
Luftwaffenstützpunkts Incirlik und die Sperrung des türkischen
Luftraums für US-Flugzeuge. 60 Prozent der amerikanischen Luftfracht
nach Irak läuft über die Türkei und 25 Prozent des Benzinnachschubs
für die US-Truppen. Die Türkei bereitet gerade einen eventuellen
Militäreinsatz im Nordirak vor, und auch dies könnte den Amerikanern
Probleme bereiten, wenn es eine der wenigen einigermaßen friedlichen
Regionen des Irak destabilisieren sollte.
Nach Auffassung Ankaras war die armenische Tragödie im ersten
Weltkrieg weder ein Genozid, noch starben 1,5 Millionen Armenier –
sondern, nach türkischer Meinung, rund 300 000, und etwa ebenso viele
Türken als Folgen armenischer Aufstände im Rahmen des Weltkrieges,
die darauf abzielten, auf osmanischem Boden einen eigenen Staat zu
errichten.
Unter Historikern gibt es keinen Konsens zu dem Thema. Der führende
Historiker Bernard Lewis lehnt den Begriff Genozid für die
armenischen Massaker ab, andere internationale Studien haben die Zahl
von 1,5 Millionen armenischen Opfern in Zweifel gezogen und gehen
eher von der Hälfte aus.
Zahlreiche Parlamente haben den Genozid anerkannt, zuletzt 2006 das
französische Parlament. Die türkische Reaktion waren
Boykott-Drohungen und ein Abbruch der militärischen Beziehungen. In
den USA wird man die wirtschaftlichen Folgen vermutlich als belanglos
bewerten: Der türkische Handel mit Frankreich ist seit der
französischen Genozid-Resolution eher gewachsen. Die militärischen
Folgen allerdings könnten die ohnehin permanent strapazierte
amerikanische Irak-Politik vor neue Probleme stellen.
Ankara schlägt vor, alle Archive zu öffnen – die türkischen sind es
bereits – und eine internationale Historikerkommission damit zu
betrauen, die Genozid-Frage ein für alle Mal zu klären. Allerdings
weigert sich Armenien bislang sowohl seine Archive zu öffnen als auch
im Rahmen einer Historiker-Kommission über den "Genozid" zu
diskutieren, da die Fakten ohnehin klar seien.
Die Grundangst der türkischen Politik bei alldem ist, dass ein
Einlenken Ankaras in der Schuldfrage zu umfangreichen armenischen
Kompensationsforderungen führen wird.
Seite 8: Kopfnote
"Diese inakzeptable Entscheidung hat für die türkische Nation keine
Gültigkeit" Präsident Abdullah Gül