Chanson
Charles Aznavour und die dicke deutsche Frau
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Von Sascha Lehnartz 14. Dezember 2008, 12:09 Uhr
Er ist eine Legende und schier unermüdlich: Mit 84 Jahren steht
Charles Aznavour noch auf den Bühnen der Welt, schreibt Erzählungen
und hat gerade eine Doppel-CD produziert. Im Gespräch mit WELT ONLINE
verrät der Chansonnier, warum dicke deutsche Frauen beinah einen
seiner größten Hits verhindert hätten.
Der gebürtige Armenier Charles Aznavour ist vielseitig: Sänger,
Schauspieler und Buchautor. Für den Erzählband "Mon père, ce géant"
hat er den "Prix de la nouvelle" bekommen. Foto: EMI
Charles Aznavour ist verärgert. Er will bald ein Konzert in Amerika
geben, und der amerikanische Veranstalter verlangt ein medizinisches
Attest für die Versicherung des 84 Jahre alten Künstlers. Aznavour
sieht das überhaupt nicht ein. Er will nicht für ein EKG aufs
Laufband. Aznavour sitzt im Chef-Büro des Pariser Musikverlages seines
Entdeckers Raoul Breton, den er vor einigen Jahren gekauft hat, und
wirkt höchst lebendig. Wir erteilen gern ein
Unbedenklichkeitsattest. Der Mann ist fit.
Die Anfänge
Der Sohn armenischer Einwanderer wird am 22. Mai 1924 in Paris geboren. Schon
als Neunjähriger hat er unter dem Künstlernamen Aznavour Auftritte als Sänger
und Entertainer. Eigentlich heißt er Shahnour Varenagh Aznavourian.
Charles Aznavour: Ich soll tatsächlich einen Test einreichen, der nachweist,
dass ich kein Kokain nehme. Dabei haben die jede Menge Künstler, die sich mit
Drogen zugrunde gerichtet haben. Ich habe mich noch nie in meinem Leben
berauscht. Na ja, das stimmt nicht ganz. Mit Bordeaux schon. Das ist aber nicht
dasselbe. Das ist eher ein nationaler Charakterzug.
WELT ONLINE: Ändert sich etwas für Sie, wenn Sie in einer anderen Sprache singen
als Französisch?
Aznavour: Das ändert gar nichts. Französisch kann ich mir besser merken, aber
bei der Plattenaufnahme liest man ja eh. Auf Deutsch zu singen ist allerdings
eigenartig. Als ich Platten auf Deutsch gemacht habe, habe ich gelernt, Deutsch
zu lesen – aber ohne es zu verstehen.
WELT ONLINE: Aber Sie haben mit der deutschen Version von "Tu t’laisses aller",
"Du lässt Dich geh’n" 1961 einen großen Hit in Deutschland gehabt.
Aznavour: Das stimmt, dabei wollte die Plattenfirma diese Platte gar nicht
veröffentlichen. Die haben mir gesagt: "Das können wir nicht machen. Wir haben
in Deutschland ziemlich viele dicke Frauen." Aber dann wurde es ein Hit.
WELT ONLINE: Jetzt haben Sie eine Doppel-CD mit Duetten herausgebracht: Wenn Sie
mit einem anderen großen Star gesungen haben, etwa Frank Sinatra, gab es da
nicht auch Konkurrenz?
Aznavour: Nein. Zwischen uns gab es da nicht mehr Konkurrenz, als wenn wir
zusammen Whiskey getrunken haben. Obwohl: Das stimmt nicht, wir haben gar keinen
Whiskey zusammen getrunken, ich mag nämlich keinen Whiskey. Wir haben die eine
oder andere Flasche Petrus zusammen geleert, die mochten wir beide gern.
WELT ONLINE: Es heißt immer, Sie seien von Edith Piaf entdeckt worden.
Aznavour: Das stimmt aber nicht. Entdeckt hat mich der Musikverleger Raoul
Breton. Edith war die Erste, die mir vorausgesagt hat, dass ich eine große
Karriere machen würde. Ich bin mit ihr aufgetreten und habe acht Jahre in ihrem
Haus gewohnt. Ich habe alle anderen kommen und gehen gesehen, aber ich war immer
noch da. Raoul hat mir dann irgendwann gesagt, "Aus dir wird nichts werden, wenn
du das Haus nicht verlässt."
WELT ONLINE: Sie haben anfangs heftige Verrisse erhalten. Was hat Sie bewegt
weiterzumachen?
Aznavour: Es hat Momente gegeben, wo ich aufhören wollte. Aber Breton hat mir
gesagt: "Versuch es noch ein Jahr. Wenn es nicht klappt, hörst du auf." "Gut",
habe ich gesagt, "ein Jahr gebe ich Ihnen." Und in dem Jahr hat es dann
geklappt. Erst bin ich in Paris in einem kleinen Musiktheater mit der Sängerin
Rose Avril aufgetreten. Dann in Marokko, wo ich am Tag nach unserem Debüt auf
einmal der Star war. Die Show hat der Direktor des "Moulin Rouge" gesehen, der
mich dann engagiert hat. Danach lief es. Man muss Geduld haben, und ich war mit
meiner Geduld da fast am Ende. Ich hatte ja schon Frau und Kinder.
Der Durchbruch
1946 nimmt Edith Piaf ihn mit auf ihre Tournee durch Frankreich und die USA.
1950 wird er jedoch in der Presse böse verrissen. Vor allem seine Stimme
missfällt. Dennoch singt Aznavour weiter und feiert 1960 in Casablanca seinen
Durchbruch. Zahlreiche Alben und Tourneen folgen. Bisher hat er über 1000 Lieder
veröffentlicht.
WELT ONLINE: Heute gibt es Castingshows. Wie finden Sie die?
Aznavour: Ich schreibe gerade ein Buch über unser Metier, in dem ich
Nachwuchskünstlern ein paar Ratschläge gebe. Simple Dinge. Wenn sie beginnen,
Erfolg zu haben, gibt es immer irgendeinen, der ihnen einen Cognac oder einen
Whiskey anbietet. Dann trinken sie einen, dann zwei oder drei, dann brauchen sie
eine Flasche, und bald ziehen sie die erste Linie. So läuft das. Ich warne
davor, ich sage den jungen Leuten, das Metier ist bereits eine Droge, man
braucht die anderen Drogen gar nicht.
WELT ONLINE: Es gab einen Film über Edith Piaf, können Sie sich ihr Leben auch
verfilmt vorstellen?
Aznavour: Meine Tochter und mein Schwager beschäftigen sich damit. Man wird
sehen. Sie kennen ja den Witz, oder?
WELT ONLINE: Welchen?
Aznavour: "Wir drehen einen Film über Aznavour." "Aha, wer soll denn Aznavour
spielen?" – "Das macht Aznavour selbst." – "Aber der ist doch zu klein." – Man
muss die Dinge mit Humor nehmen.
WELT ONLINE: Neuerdings schreiben Sie auch Kurzgeschichten?
Aznavour: Ja, ich bekomme für meinen Erzählband "Mon père, ce géant" jetzt
tatsächlich den "Prix de la nouvelle". Ich bin Sohn von Einwanderern. Bei uns
wurde kein Französisch zu Hause gesprochen. Ich habe die Schule im Alter von
zehneinhalb abgebrochen – und heute bin ich Schriftsteller. Sänger kann jeder
werden oder Boxer, Fahrradfahrer oder Torero. Aber Schriftsteller, da bin ich
schon ein wenig stolz drauf.
WELT ONLINE: Und Ihr Werk ist heute schon Teil des kulturellen Erbe Frankreichs.
Aznavour: Aber ich bin ja auch Franzose. Ich bin mehr Franzose als Armenier.
Obwohl ich sehr armenisch bin, durch meine Kultur, meine Religion und die
Vergangenheit meines Volkes, durch meine Sprache und meine kulinarischen
Vorlieben.
WELT ONLINE: Was ist denn an Ihnen besonders armenisch?
Aznavour: Ich hatte früher kaum armenische Freunde. Seit dem schweren Erdbeben
1988 habe ich durch meine Arbeit für Armenien viele gewonnen. Wir haben viel
gemeinsam. Wir sind alle Kinder von Menschen, die man vertrieben und massakriert
hat. Und trotzdem ist das, was uns am meisten verbindet, das Lachen.
WELT ONLINE: Auf Ihrer letzten CD gibt es ein Lied mit dem Titel "Moi, je vis en
banlieu", in dem Sie die Rolle eines jungen Einwanderers aus der Vorstadt
annehmen.
Aznavour: Ich identifiziere mich mit Menschen, die ich liebe, weil sie etwas
Ähnliches erleben wie das, was wir erlebt haben. Die Kinder der Immigration sind
meine eigenen Kinder. Da bin ich genau wie mein Vater. Wenn ich ihnen helfen
kann, tue ich es. Und die Lieder helfen ihnen. Schon, wenn sie so ein Lied
hören, dann wissen sie, dass da jemand an sie denkt. Sie müssen wissen, ich habe
selbst eine Benetton-Familie. Ich habe eine Schwiegertochter aus Haiti, einen
algerischen Schwager, einen jüdischen Enkel, meine Frau ist protestantische
Schwedin, und ich bin gregorianisch-armenisch. Es fehlt eigentlich nur noch eine
Chinesin.
WELT ONLINE: Jean Cocteau war es, der über Sie gesagt hat, Sie hätten die
Verzweiflung populär gemacht. Ist es Ihnen mal passiert, dass Sie sich in einer
unglücklichen Liebesgeschichte befanden, und währenddessen dachten Sie bereits:
"Diese Geschichte könnte vielleicht einmal ein schönes Chanson werden?"
Aznavour: Das ist ja nicht nur mit Liebesliedern so. Jedes Ereignis, aus dem man
ein gutes Lied machen kann, wird von Autoren benutzt. Es wäre auch lächerlich,
ein schönes Thema einfach auszulassen. Ja, ich habe zum Beispiel "Il faut
savoir" so geschrieben. Aber als ich meinen Auto-Unfall hatte und neun Monate im
Gipsbett lag, da habe ich "Pour faire une jame" geschrieben. Sehen Sie den
Unterschied?
Aznavour spielte in über 70 Filmen mit, wie etwa in François Truffauts "Schießen
Sie auf den Pianisten" oder Volker Schlöndorffs "Die Blechtrommel".
WELT ONLINE: Sie haben mal gesagt, Charles Trenets "La mer" sei vielleicht das
schönste Chanson überhaupt.
Aznavour: Eins der schönsten, jedenfalls mein bevorzugtes Chanson von Trenet. Es
ist das größte, optimistische Chanson, das ich kenne. Niemand in Frankreich hat
ein so großes, optimistisches Lied geschrieben. Das hätte ich selbst gern
geschrieben. Ich habe kein einziges Lied der Freude geschrieben. Ich habe
lustige Lieder geschrieben, aber kein frohes.
WELT ONLINE: In vielen Ihrer Lieder geht es um den Verlust der Zeit: "Mais
c’était hier encore" – "Gestern noch". Wissen Sie noch, wann Sie das erste Mal
dieses Gefühl hatten, dass die Jugend verloren ist?
Aznavour: Ich hatte nie das Gefühl, dass die Jugend verloren ist. Ich hatte
keine Jugend. Meine Jugend war im Krieg, deshalb hatte ich keine. Manchmal sehen
mich Leute schräg an, wenn ich von den "seligen Zeiten der Besatzung" spreche.
Das hat mit Politik überhaupt nichts zu tun, sondern nur mit dem Alter, das wir
damals hatten. Wir waren ja "in der Blüte unserer Jugend". Aber ich sage das
auch nur, um zu provozieren. Nach dem Krieg hat man mich oft gefragt: "Aber Sie
haben ja während des Krieges nicht für Radio Parisgesungen?" Dann kann ich nur
sagen: "Nein, und zwar, weil man uns nicht gebeten hat." Das ist die Wahrheit,
natürlich hätte ich gesungen, wenn ich gefragt worden wäre. Das ist doch
lächerlich. Natürlich war das Land besetzt, aber man konnte ja die Leute nicht
einfach verhungern lassen, nur weil das Land besetzt war. Da beklagt man sich,
die Schauspieler seien aufgetreten, die Sänger hätten gesungen, ja klar – von
irgendwas musste man ja leben. Man konnte ja nicht das ganze Volk einfach
sterben lassen. Aber trotzdem: Eine Jugend hatte ich nicht. Ich habe gearbeitet,
seit ich neun Jahre alt war. Ich bin mit meiner Schwester aufgetreten und habe
mich verantwortlich gefühlt. Das war’s. Die Jugend, die erlebe ich eigentlich
jetzt.
WELT ONLINE: Also sind Sie nicht nostalgisch?
Aznavour: Ich bin nicht nostalgisch. Ich verstehe Nostalgie. Ich schreibe
Nostalgie. Aber schreiben ist lügen, vergessen wir das nicht. Spielen ist lügen.
Singen ist lügen. Man muss es so ehrlich wie möglich tun, so wahrhaftig wie
möglich. Das heißt, man muss sich unglücklich fühlen in dem Moment, wo man das
Unglück besingt. Und nicht so tun, als ob man unglücklich sei. Das ist nämlich
nicht das Gleiche. Ich sehe das im Blick des Sängers.