Auf dem armenischen Friedhof /At the Armenian Cemetery

Die Welt, Deutschland
19 April 2005

At the Armenian Cemetery

Auf dem armenischen Friedhof

Kolumne
von Hannes Stein

Am kommenden Sonntag ist der 24. April. Ich werde auf dem armenischen
Friedhof in Jerusalem stehen, umringt von Leuten, die an den
Völkermord denken, der vor genau 90 Jahren begann. Eineinhalb
Millionen Armenier ließ die Regierung des Osmanischen Reiches 1915
ff. “ins Nichts deportieren”. Die Todesarten waren vielfältig:
verdurstet, erschlagen, ertrunken, erfindungsreich gefoltert. Ja,
auch Frauen, auch Kinder.

Der armenische Patriarch wird den Weihrauchkübel schwenken, seine
Mönche werden Gebete in einer Sprache sprechen, die ich nicht
verstehe. Vielleicht werden sie singen. Wenn die Armenier Choräle
singen, fliegt einem glatt die Seele weg. Mein Freund George, dessen
Vater den Genozid überstand – Gott weiß, wie und warum -, wird ein
bißchen verlegen lächelnd daneben stehen. Ich hoffe, daß ein Mitglied
der israelischen Regierung seinen Weg auf den armenischen Friedhof
finden wird: auch wenn der erste Tag des Passahfestes ist, auch wenn
Israel mit der Türkei (die das Verbrechen bis heute beharrlich
leugnet) Waffenbrüderschaft geschlossen hat.

Heiß wird es sein auf diesem christlichen Friedhof in Jerusalem. Und
mir werden ein paar von den Juden einfallen, die in den Armeniern
schon früh ihre niedergemetzelten Brüder und Schwestern erkannt
haben. An erster Stelle Raphael Lemkin, der vergessene Vater der
Anti-Genozid-Konvention der UNO: Als junger Rechtsanwalt beim
polnischen Sejm hörte er von dem damals noch präzedenzlosen Massaker
und forderte in Madrid vor dem Völkerbund ein Gesetz gegen solche
Menschheitsverbrechen. Und natürlich Franz Werfel, dessen Roman “Die
vierzig Tage des Musa Dagh” 1933 gerade rechtzeitig herauskam, um
unter dem Gejohle deutscher Studenten verbrannt zu werden. In diesem
Buch zeichnet zum ersten Mal ein Schriftsteller das “arktische
Gesicht” des 20. Jahrhunderts nach.

Auch an den beklemmend-großartigen Bericht des Henry Morgenthau sen.
werde ich mich erinnern, der als Botschafter Amerikas zum Zeugen des
Verbrechens wurde. Glauben Sie bitte den Goebbelsschen Lügen über
seinen Sohn nicht, der F.D. Roosevelt als Finanzminister diente: Es
war keineswegs “alttestamentarische Härte”, die ihn in den vierziger
Jahren eine strenge Bestrafung der Nazis fordern ließ. Nein, es war
der Umstand, daß er in einem Haus aufwuchs, in dem über das Schicksal
der Armenier gesprochen wurde. Im Geist werde ich mich vor Edgar
Hilsenrath verneigen, dessen “Märchen vom letzten Gedanken” jetzt
endlich vom Dittrich-Verlag neu gedruckt wurde. “Es war einmal ein
letzter Gedanke”, heißt es in diesem wunderbaren Roman. “Der saß in
einem Angstschrei und hatte sich dort versteckt.”

Menachem Begin mit der Hornbrille und dem schmalen Mund wird in
meinem Kopf auftauchen. Derselbe, der als Ministerpräsident den
israelischen Einmarsch in den Libanon befahl. Nebbich. Als junger
Mann saß Begin im Gulag, seine halbe Familie verlor er an die Nazis,
und einmal sagte er: “Wenn ich einem Armenier in die Augen schaue,
sehe ich einen Juden.” Noch mehr aber wird mich ein Satz von Israel
Zangwill beschäftigen, dem Autor des kleinen, feinen Schelmenromans
“Der König der Schnorrer”. Israel Zangwill schrieb anno 1915: “Heute
hat Gott den Juden die Dornenkrone abgenommen und sie dem armenischen
Volk aufgesetzt.” Wie hätte er auch ahnen sollen, daß Hitler und
seine willigen Helfer in ganz Europa sie schon bald wieder den Juden
aufs Haupt drücken würden?

An all diese Menschen werde ich auf dem Armenierfriedhof in Jerusalem
denken. Und an all die Toten. Und an die Geschlachteten in der
sudanesischen Provinz Darfur, für die sich schon wieder kein Schwein
interessiert. Und still sein.

Artikel erschienen am Di, 19. April 2005

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