Frankfurter Allgemeine Zeitung
23. April 2005
Das doppelte Fieber;
Schreckensjahrestag: Armenien, die Türkei und Deutschland
Aufmacher Feuilleton
Als sich Franz Werfel Anfang Januar 1933 auf die Lesereise für seinen
soeben erschienenen Roman “Die vierzig Tage des Musa Dagh” machte, in
dem er “das unfaßbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich
alles Geschehenen zu entreißen” suchte, mag er schon geahnt haben,
daß es für einen Vorleser wie ihn in Deutschland bald keinen Platz
mehr geben würde. Schließlich hatte Hitler den türkischen Völkermord
an den Armeniern, bei dem in den Jahren 1915 und 1916 mehr als eine
Million Menschen auf grauenhafte Weise umgebracht wurden, sowie die
relative Tatenlosigkeit sowohl des deutschen Verbündeten als auch der
Alliierten bereits in den zwanziger Jahren als Ermunterung zu einer
radikalen Politik gegenüber den Juden aufgefaßt. Wenn diese eines
Tages aus dem Deutschen Reich verschwunden sein sollten, so Hitler,
würde auch dies bald in Vergessenheit geraten.
Aber es wurde nicht vergessen, was Hitler den Juden antun ließ, und
es wurde auch nicht vergessen, daß der Euphrat einen Strom
armenischer Leichen mit sich führte, daß junge, gebildete armenische
Frauen Selbstmord begingen, wenn türkische Soldaten ihnen die Rettung
vor der sicheren Vernichtung versprachen, wenn sie nur in eine
Hochzeit einwilligen würden. So ist das Schicksal der Armenier heute
ein zentraler Punkt, der über die Zugehörigkeit der Türkei zur
Europäischen Union mit entscheidet. Denn die Türken selbst, als
Nachbarn, die mit Armeniern Tür an Tür lebten, haben in der dritten
oder vierten Generation bis heute ebensowenig vergessen.
Es gibt auch neunzig Jahre nach Beginn des Genozids eine kollektive
mündliche Erinnerung unter den Türken, die im Gegensatz zur
Staatsideologie vom Mitleiden geprägt ist. In abgelegenen Gegenden
Anatoliens konnte man schließlich in den fünfziger Jahren noch Höhlen
voller Menschenknochen finden – Überreste des ersten Genozids im
zwanzigsten Jahrhundert, dessen Motive nur aus der “nationalen
Modernisierung” des Osmanischen Reichs unter den Jungtürken zu
verstehen sind. Eine Reaktion auf das Versagen eines
Vielvölkerreiches, in dem Volkszugehörigkeit und Religion darüber
entschieden, welche Rechte und Lasten einer Person zukamen. Die
abgestufte Ungleichheit und Rechtlosigkeit der Nicht-Türken sollte
nach den Vorstellungen der Jungtürken, die zunächst mit Armeniern und
Griechen gegen den Sultan verbündet waren, gar nicht mehr zum Tragen
kommen. Die moderne Türkei war ihnen nur vorstellbar als ein
möglichst ethnisch-homogenes Staatsvolk der Türken. und es dauerte
nicht lange, da galten alle Nicht-Türken im Land als Feinde.
Daß Vernichtung und Vergessen nicht dasselbe geworden sind, hat nicht
nur mit der militärischen Niederlage Deutschlands im Ersten und
Zweiten Weltkrieg zu tun. Vielmehr ging mit dem Kriegsende von 1945
eine Epoche des Nationalismus zu Ende – in den Siegerstaaten so gut
wie im besiegten Deutschland. Der Haß, aber auch alle
nationalistischen Utopien waren ausgebrannt, auch wenn es noch ein
langes Nachglühen gab. Das politische Europa, das sich nach dem
Weltkrieg entwickelte, war die Antwort auf eine Politik der
Vernichtung, die Europa in Gedanken und Taten seit der Französischen
Revolution beherrschte. Und es ist die Abkehr von der religiösen
Überhöhung der Nationen und der Feindbesessenheit als des Mediums
innerweltlicher Erlösung. Wenn die Türkei das nicht begreift, muß ihr
der Weg in dieses Europa verschlossen bleiben. Die
Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen mit ihren Artikeln zur
Prävention und Sanktion von Völkermord bewahrt dieses Gedächtnis. Und
Raphael Lemkin, der Initiator der Genozidartikel, bezog sich neben
der Holocaust-Erfahrung ausdrücklich auf den Völkermord an den
Armeniern.
Daran muß erinnert werden, wenn heute und morgen an vielen Orten der
Welt Gedenkveranstaltungen zum neunzigsten Jahrestag des Genozids an
den Armeniern stattfinden. Dieses Erinnern ist keine
zeitgeschichtliche Mode, keine einfühlende Hysterie, sondern die
Grundlage, das moralische Ordnungsprinzip und zugleich das
Interessenvehikel unserer politischen Welt. Das läßt sich am
Verhältnis Japans und seinen Nachbarn ablesen; und in Kambodscha
öffnet sich das Totenreich der von Pol Pot Ermordeten. Man braucht
indessen gar nicht so weit zu schauen: Die Türkei wird gegenwärtig
von dem doppelten Fieber der Erinnerung und des Nationalismus
geschüttelt. Die einen fühlen sich in ihrem Stolz verletzt, die
anderen wollen endlich eine Türkei der Menschenrechte.
Tatsächlich hat die Europäische Gemeinschaft der Türkei schon 1987
unmißverständlich die Auseinandersetzung mit der eigenen
nationalistischen Vergangenheit als Bedingung eines Beitritts zur
Europäischen Union aufgegeben. Dem trug nun endlich auch der Deutsche
Bundestag Rechnung, als er auf Initiative der CDU/CSU-Fraktion die
Türkei aufforderte, sich mit der “Armenien-Frage” zu beschäftigen –
dabei aber peinlich den Begriff “Genozid” vermied. Ist solche
Geschichtsaußenpolitik eine ideologische Bevormundung? Oder ein
illusionärer Humanismus, den ein Blick auf die Außenhandelsbilanz
schon noch auf eine Sonntagsrede beschränken wird? Steht hier nicht
Interesse gegen Gesinnung – oder gar Gesinnung gegen Gesinnung, denn
schließlich gelten die Türken, die heute in der Europäischen Union
leben, als Prüfstein für Toleranz und kulturelles Miteinander?
Es mutet merkwürdig an, daß diese Fragen im Ersten Weltkrieg schon
einmal in anderer Konstellation gestellt wurden. Aus den falschen
Antworten von damals lassen sich heute vielleicht die richtigen
Schlüsse ziehen. Wenn die Deutschen in alledem eine besondere Rolle
spielen, dann nicht allein wegen des Bündnisses mit den Türken im
Ersten Weltkrieg. Vielmehr verweisen der türkische Völkermord und die
deutsche Reaktion auf politische Bruchlinien, die für ganz Europa
schicksalhaft werden sollten. Wenn man sie verfolgt, kommt man an
eine fundamentale rassistische Wende in Europa, die die nachfolgenden
Jahrzehnte bestimmen sollte.
Das läßt sich am Gegensatz zweier Personen zeigen, die das deutsche
Armenien-Bild prägten. Der eine war der Pfarrer Johannes Lepsius,
Mitglied der Orient-Mission. Er hatte schon in den neunziger Jahren
des neunzehnten Jahrhunderts die deutsche Öffentlichkeit auf die
Massaker an den Armeniern im zerfallenden Reich des “roten Sultans”
Abdul Hamid II. aufmerksam gemacht; während des Genozids von 1915 und
1916 versuchte er Hilfe für die Armenier zu organisieren und
möglichst viele diplomatische Dokumente zur jungtürkisch inspirierten
Armeniervernichtung zu sichern und im Kampf gegen die Zensur zu
publizieren.
Zwar gab es auf seiten des deutschen Militärs und deutscher
Diplomaten im Osmanischen Reich vereinzelte Proteste, insgesamt aber
verhielt sich die politische Führung des Deutschen Reichs
“realpolitisch”: Der türkische Bündnispartner sollte nicht verprellt
werden, die deutschen Interessen wogen schwerer als das Schicksal der
christlichen Armenier. Mehr noch: Die Armenier trügen selbst die
Schuld an ihrem Untergang, so Friedrich Naumann, der Gründer des
Nationalliberalen Vereins und einer der prominentesten Figuren der
wilhelminischen Ära. Die Armenier verhielten sich wie Parasiten auf
dem sterbenden Leib des “kranken Mannes”. Die Armenier waren ihm
bereits während einer Reise vor der Jahrhundertwende als
“Zwischenvolk” ohne weitere historische Berechtigung erschienen. Karl
May sollte diese rassistische Festschreibung in seinem Roman “Im
Reich des silbernen Löwen” nachhaltig popularisieren. Von hier aus
zur sogenannten “Judenzählung” im Deutschen Heer von 1916, die auf
dem explizit rassistisch begründeten Vorwurf parasitärer Feigheit vor
dem Feind beruhte, war es dann nur ein Schritt, ein rassistischer
Nachvollzug im Innern, was man theoretisch im Hinblick auf das
Osmanische Reich “völkisch” schon gebilligt hatte.
Die “armenische Frage” berührt also nicht nur die türkische
Geschichte, sondern ebenso die deutsche und europäische Geschichte
seit der Reichsgründung. Was Europa wirklich wert ist, wird sich hier
zeigen. Wenn nun die türkische Regierung tatsächlich bereit ist zur
Einsetzung einer armenisch-türkischen Historikerkommission, so ist es
undenkbar, daß die armenische Diaspora in aller Welt ausgeklammert
sein soll, wie die Türkei fordert. Denn die Diaspora – das sind die
Nachfahren der Überlebenden. Es wäre gerade so, als wäre das American
Jewish Committee in den Holocaust-Entschädigungsverhandlungen nicht
beteiligt worden.
MICHAEL JEISMANN
Der vergangenheitspolitische Umgang mit der türkischen
Vernichtungspolitik gegen die Armenier 1915/16 wird zur Probe auf
Europa: Ein Blick aus der Genozid-Gedenkstätte in Eriwan.
Foto Lili Nahapetian