Der Genozid als Geissel der Menschheit

DER GENOZID ALS GEISSEL DER MENSCHHEIT
Von Jakob Tanner

Tages-Anzeiger
18. Oktober 2006

Die Antirassismus-Strafnorm ist keine Bedrohung der Meinungsfreiheit.

Sie schraenkt das Postulat, dass die Geschichtswissenschaft frei sein
muss, keineswegs ein.

Letzte Woche machte Bundesrat Blocher in Ankara einen Bueckling. Die
Geschichtsschreibung sei Sache der Historiker, abweichende Meinungen
zu verbieten, sei falsch, war eine der Botschaften, die in der
Schweiz ankamen. Wie immer bei solchen Gelegenheiten erklaerte der
tuerkische Justizminister Cemil Cicek, seine Regierung habe vor,
eine internationale Historikerkommission einzusetzen, welche die
Frage des Genozids an den Armeniern waehrend des Ersten Weltkriegs
klaeren solle. Dass Forscher, welche sich an die Fakten halten, in der
Tuerkei strafrechtlich belangt werden, war kein Thema. Hingegen sprach
Christoph Blocher zur Freude seines Gastgebers von der Notwendigkeit
einer Revision der schweizerischen Antirassismus-Strafnorm. Aus der
SVP kamen zustimmende Voten. Das Gesetz ist Rechtskreisen laengst
ein Dorn im Auge. Meinungsfreiheit wird hier als erweitertes Recht
auf rassistische Rhetorik und Fremdenfeindlichkeit betrachtet. Um
Angegriffene zu schuetzen, hat eine Mehrheit der Stimmbuergerinnen und
Stimmbuerger es 1994 als noetig erachtet, auf gesetzlicher Grundlage
einzuschreiten, wenn die Wuerde von Menschen attackiert wird. Diese
Zielsetzung sicherte der Antirassismus-Strafnorm eine solide politische
Grundlage. Christoph Blocher nutzt inzwischen sein Exekutivamt, um
hier neue Verhaeltnisse zu schaffen, und es stellt sich die Frage,
wie lange die Bundesratsparteien in diesem Stueck namens "Biedermann
und Brandstifter" noch mitmachen.

Franzoesische Bedenken

Ein Blick auf Ereignisse im Ausland, die in den Schweizer Medien
ebenfalls Schlagzeilen gemacht haben, zeigt, dass die Bestrafung
der Leugnung von Voelkermord auch aus liberaler und linker Sicht
einige Probleme aufwirft. Dabei geht es nicht zuletzt um die Rolle der
Geschichtsschreibung und ihr Verhaeltnis zur Rechtsprechung. Vor kurzem
stimmte die franzoesische Nationalversammlung einem Gesetz zu, das die
Leugnung des Voelkermordes an den Armeniern unter Strafe stellen will.

Prominente Historiker kritisierten diesen Entscheid umgehend, so
wie sie sich schon frueher gegen Einmischungen des Staates in die
Geschichtswissenschaft wandten. Jean-Pierre Azema, Elisabeth Badinter,
Marc Ferro, Pierre Milza, Pierre Nora, Mona Ozouf und Jean-Pierre
Vernant (um nur einige zu nennen) gehen davon aus, dass historisch
bewiesene Tatsachen stark genug sind, um in einer demokratischen
Oeffentlichkeit zu bestehen. Sie weisen zudem darauf hin, dass
die Freiheit der Forschung durch das neue Gesetz, wenn es denn zu
Stande kaeme, direkt bedroht waere. Angesichts dieser Gefahr schlug
ein Abgeordneter vor, professionell arbeitende Historiker sollten
von der Strafandrohung ausgenommen werden und auch weiterhin Fragen
stellen duerfen. Eine merkwuerdige Privilegierung! Der soeben mit
dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnete tuerkische Schriftsteller
Orhan Pamuk, der durch die Nennung des Genozids an den Armeniern
der "oeffentlichen Herabsetzung des Tuerkentums" angeklagt war,
qualifizierte das franzoesische Gesetz ebenfalls als einen "Irrtum"
und wurde vom armenischen Patriarchen in Istanbul unterstuetzt,
der vor einem "Spiel der extremen Nationalisten und Rassisten in der
tuerkischen und armenischen Gesellschaft" warnte.

Die Arroganz der Macht

Keiner der genannten Kritiker am franzoesischen Gesetz wuerde mit
dem genozidleugnenden tuerkischen Justizminister eine "Diplomatie des
Vorbilds" praktizieren wollen, wie sich Christoph Blocher ausgedrueckt
hat. Ihnen geht es vielmehr um interkulturelle Verstaendigung. Sie
wollen verhindern, dass Rassisten und Antisemiten, die sich gerne zu
Maertyrern stilisieren, gratis ein staatlich finanziertes Tribunal
fuer die Ausbreitung ihrer Hassideologien zur Verfuegung gestellt
bekommen. Dieser Ansicht sind auch amerikanische Historiker. Adam
Jones etwa schreibt in seiner soeben erschienenen "umfassenden
Einfuehrung" zum Genozid, es "werde ihm uebel", wenn er die
Namen "verlogener Demagogen" nennen muesse, nur weil sie ihre
effektvollen Gerichtsauftritte hatten. Darueber hinaus werden
grundsaetzliche Ueberlegungen aufgegriffen, die schon Marc Bloch in
seiner "Apologie der Geschichtswissenschaft" Anfang der 1940er-Jahre
anstellte. Bloch kritisierte eine Geschichtsschreibung, die sich "wie
ein richtender Erzengel" gebaerdet und die sich "als eine Art Richter
des Totenreiches" aufspielt. Er arbeitete den Unterschied zwischen
Richter und Historiker heraus, der auch von andern Exponenten der
Disziplin – unter den bekanntesten Carlo Ginzburg – betont wurde.

In Frankreich ist die Tendenz, die Freiheit der Wissenschaft gegen die
Anmassung des Staates ohne Ruecksicht auf die Kosten zu verteidigen,
besonders ausgepraegt. Dies haengt mit der Arroganz der Macht
zusammen. Dazu nur ein Beispiel aus dem Buch von Jones, der fragt,
was man von Francois Mitterrand halten soll, der Holocaustleugner
vor Gericht zieht, gleichzeitig aber 1994 in Ruanda jene Gruppen
unterstuetzt, die daran sind, einen Genozid zu verueben?

Was soll man dazu sagen, dass dem Staatspraesidenten spaeter auf
entsprechendes Nachfragen nur die Bemerkung einfiel: "Genozid? Oder
Genozide?" Indem Mitterrand hier subtil das kolonialherrschaftliche
Bild eines gegenseitigen Sichabschlachtens rivalisierender Staemme im
Innern Afrikas aufscheinen laesst, benutzte er ein probates Mittel
der Voelkermordleugner. Kann man es Historikern verargen, wenn sie
angesichts einer solchen "L’histoire c’est moi"-Haltung staatliche
Eingriffe ablehnen?

Anspruchsvolle Gerichtspraxis

Gegen eine solche Position kann und muss eingewendet werden, dass
es falsch ist, vor negationistischen und rassistischen Hasspredigern
zu kuschen und sie mit dem Argument der Meinungsaeusserungsfreiheit
gewaehren zu lassen. Zudem hat das franzoesische Gesetzesprojekt
den gravierenden Nachteil, dass es auf Grund der Beschraenkung auf
den Genozid an den Armeniern nicht universell formuliert ist. Das
entspricht nicht dem Geist des Voelkerrechts. Die schweizerische
Strafnorm macht hingegen keine solchen Beschraenkungen. Sie sieht mit
guten Gruenden von einer Liste der inkriminierten Tatbestaende ab und
ueberlaesst es den Gerichten, von Fall zu Fall zu urteilen. Das ist
anspruchsvoll und schwierig, aber unvermeidbar. Denn zum einen ist
"Voelkermord" eine juristische Definition, ein voelkerrechtlicher
Tatbestand. Und zum andern muss die Motivation der Taeter mit
beruecksichtigt werden.

Leugnung von Genozid ist ein Absichtsdelikt. Der Jurist Marcel
Alexander Niggli hielt mit guten Gruenden fest, dass das Ziel
der Negationisten systematisch auf Rassendiskriminierung und die
Herabsetzung der Menschenwuerde anderer hinauslaeuft. Die oeffentliche
Diskussion "problematischer Beispielfaelle" – genannt werden z. B. in
einer neueren juristischen Dissertation (Jan Huebner, "Das Verbrechen
des Voelkermordes", 2004) der Vietnamkrieg, die Verfolgung der
Ache-Indianer in Paraguay und der Einsatz von Nuklearwaffen – ist
hingegen selbstverstaendlich weiterhin erlaubt.

Das Argument, das Gesetz bedrohe die "freie Meinungsaeusserung",
trifft nicht zu. Das Rechtskonstrukt dient vielmehr der
Eindaemmung von Rassismus, Antisemitismus und ist als Abwehr gegen
Menschenrechtsverletzungen konzipiert. Das laesst sich mit dem
Postulat, dass Geschichtswissenschaft frei sein muss, ohne weiteres
vereinbaren.

Die Anregung fuer die voelkerrechtliche Definition des Genozids
kam vom juedisch-polnischen Rechtswissenschaftler Raphael Lemkin
(1900-1959), der angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung
bereits 1933 die Anregung machte, Barbarei und Vandalismus als neue
Verbrechen gegen das Voelkerrecht zu kodifizieren. 1944 praegte er
in seiner Studie "Axis Rule in Occupied Europe" den neuen Begriff
Genozid – aus dem griechischen Wort "genos" (Rasse, Volk, Stamm) und
dem lateinischen "cidium" (Mord) -, der sich rasch durchsetzte. Ende
1948 verabschiedete die Uno-Generalversammlung eine Konvention zur
Bestrafung und Verhinderung dieser "verabscheuungswuerdigen Geissel".

Die Aufgaben der Historiker

Doch trotz der rechtlichen Klarheit, die bezueglich des im Osmanischen
Reich unter jungtuerkischer Fuehrung veruebten Voelkermords an
Armeniern herrschte, setzte sich diese Wertung zunaechst auf Grund
des tuerkischen Widerstandes nicht durch, sodass von einem "forgotten
genocide" (Leo Kuper) gesprochen werden konnte.

Noch 1978 forderte ein Bericht des Wirtschafts- und Sozialrates der Uno
die Streichung des Genozids an den Armeniern aus der entsprechenden
Liste. Dies mit dem Argument, es sei wichtig, "die Einheit der
Voelkergemeinschaft zu erhalten", und "das Bohren in der Vergangenheit"
koenne "alte Wunden aufreissen (. . .), die am Verheilen seien". Erst
1985 hat die Uno gegen diese Politik des Vergessens und Verdraengens
den Voelkermord an den Armeniern offiziell anerkannt. Dasselbe tat
das Europaeische Parlament in einer entsprechenden Resolution im
Jahre 1987.

Genozid ist also ein voelkerrechtlicher Begriff und kann ohne diese
Definition als Verbrechen nicht festgestellt werden. Damit wird die
Geschichtswissenschaft allerdings nicht funktionslos. Ihr kommen drei
wichtige Aufgaben zu. Erstens haben die Historiker in jenen Faellen,
in denen nach voelkerrechtlicher Definition ein Genozid vorliegt, die
faktenchronologischen Grundlagen fuer eine vertiefte Interpretation
zu liefern. Dies kann dazu fuehren, dass Voelkerrechtler nach dem
Grundsatz "Da mihi facta, dabo tibi ius" ("Gib mir die Fakten,
ich klaere die Rechtslage") bestimmte Massenmorde neu als Genozid
einstufen. Die Geschichtsschreibung macht aber auch deutlich, dass
das voelkerrechtliche Absichtsdelikt Genozid unter strukturellen
Rahmenbedingungen und in einer ideologisch-mentalen Konstellation
stattfindet, welche die moerderische Handlungslogik des Genozids
einsehbar machen. Was die Armenier betrifft, so haben Historiker (z.

B. Hans Lukas Kieser) nachgewiesen, wie wichtig nationalbiologische
Reinheitsphantasmen fuer den Aufbau einer genozidalen
Motivationsstruktur bei den Jungtuerken waren. Auf diese Weise kann
die Geschichte auch erklaeren, wie auf Seiten der Taeter perverse
Bedrohungsgefuehle kultiviert werden, welche den subjektiven Eindruck
vermitteln, beim Voelkermord handle es sich um Gefahrenabwehr.

Damit ist zweitens der Ansatz einer vergleichenden Genozidforschung
angesprochen, die auf eine "Theorie des Voelkermordes" (Micha Brumlik)
abzielt. Diese sucht nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden.

Der an den europaeischen Juden veruebte Holocaust und der Genozid an
den Armeniern laesst sich – auch wenn beide Verbrechen juristisch in
dieselbe Kategorie fallen – keineswegs gleichsetzen. Es gibt jedoch
Analogien. Vergleichend angelegte historische Untersuchungen betonen
heute vor allem die entscheidende Rolle staatlicher Gewaltanwendung
und den Kontext des Krieges.

Unzulaessige Genozidvorwuerfe

Drittens hat die Geschichtswissenschaft ein Sensorium fuer die
facettenreiche Verwendung des Begriffs Genozid zu entwickeln. In
einer Welt, in der Sezessionsnationalismen Konjunktur haben
und "Voelker" ihre Existenz dadurch zu sichern versuchen, dass
sie "Volksfremde" als Feinde und "Fremdkoerper" vertreiben und
toeten, schiessen Genozidvorwuerfe geradezu ins Kraut. Im Diskurs
voelkisch-rassistischer Geister, die sich um alles andere als um
Menschenrechte kuemmern, verkommt "Genozid" zur nationalistischen
Pathosformel. Im Jugoslawien der 1980er-Jahre veroeffentlichte der
antisemitische Ethnonationalist Ivo Omrcanin ein Buch ueber den
"Genozid an den christlichen Kroaten". Als 1999 die Nato-Staaten
die drastischen Menschenrechtsverletzungen der serbisch dominierten
jugoslawischen Regierung militaerisch zu stoppen versuchten, erhob
Letztere prompt Klage wegen Voelkermord. Schweizer EU-Gegner versenden
Flugschriften, auf denen zu lesen ist: "Es geschieht ein Genozid an
den Herz-Schweizern". Daneben laesst sich eine antikapitalistische
Kulturkritik beobachten, die den Genozidvorwurf auf eine nostalgische
Beschwoerung der im Strudel forcierter Modernisierung untergehenden
traditionellen Welt bezieht. Gegen eine These von Giorgio Napolitano
gewendet, schrieb Pier Paolo Pasolini 1974, es sei ein Genozid an
"wenigstens zwei Dritteln der italienischen Bevoelkerung" im Gange,
und er habe "das Gefuehl, als ob sich der Schatten des Hakenkreuzes
ueber unsere Staedte senkte".

Gegen solch schwammige Ausweitungen und politisch-ideologische
Instrumentalisierungen des Voelkermord-Vorwurfs gilt es aus
Sicht der Geschichtsschreibung festzuhalten, dass die Genese der
Genozidkonvention nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Willen von
Voelkerrechtlern und Politikern zusammenhing, eine Luecke in der
Fahndung von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu schliessen.

Schon damals war ein Bewusstsein vorhanden, dass die Antigenozid-
und die Menschenrechtskonvention von ihrer Grundintention her
zusammengehoeren. Heute ist verstaerkt von der Einsicht auszugehen,
dass nur eine robuste, international abgestuetzte Menschenrechtspolitik
Genozide verhindern kann.

Siehe

* Jakob Tanner (56) ist Professor fuer Geschichte der Neuzeit an
der Universitaet Zuerich. Von 1996 bis 2001 war er Mitglied der
Unabhaengigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg.

Der Voelkermord an den Armeniern in einer zeitgenoessischen Darstellung
aus dem Jahr 1916.

From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress

Emil Lazarian

“I should like to see any power of the world destroy this race, this small tribe of unimportant people, whose wars have all been fought and lost, whose structures have crumbled, literature is unread, music is unheard, and prayers are no more answered. Go ahead, destroy Armenia . See if you can do it. Send them into the desert without bread or water. Burn their homes and churches. Then see if they will not laugh, sing and pray again. For when two of them meet anywhere in the world, see if they will not create a New Armenia.” - WS