Die Turkei, die Taviani-Armenier und das "Tal der Wolfe" (in german)

Frankfurter Allgemeine Zeitung
16. Februar 2007 Freitag

Wo Mörder heranwachsen;
Die Türkei, die Taviani-Armenier und das "Tal der Wölfe"

ISTANBUL, 15. Februar

Die Telefone bei RTÜK, der Aufsichtsbehörde für das Radio und
Fernsehen der Türkei, waren heiß gelaufen. In den ersten sechs Wochen
dieses Jahres haben 16 597 Türken die Beschwerdenummer der Behörde
gewählt. Sie wollten sich zur Fortsetzung der Fernsehserie "Tal der
Wölfe" äußern. Als Serienheld war Polat Alemdar, der selbsternannte
Retter der türkischen Nation mit Kontakten zur Unterwelt, bereits
einmal in Aktion. Dann folgte im vergangenen Jahr die Fortsetzung im
Kino. Sie löste in Europa eine Debatte über den Seelenzustand des
türkischen Volkes aus.

Nun setzte der private Sender Show TV am 8. Februar die Serie fort.
22,4 Prozent der Fernsehzuschauer sollen Zeuge gewesen sein, wie der
heroische Einzelkämpfer Alemdar Terroranschläge der
Separatistenorganisation PKK mit einem Rachefeldzug beantwortet.
Bevor der Sender am gestrigen Donnerstag den zweiten Teil ausstrahlen
konnte, zitierte die RTÜK den Chef von Show TV, Saner Ayar, nach
Ankara. Denn inzwischen hatten sich 13 953 Anrufer gegen die
Ausstrahlung der Serie ausgesprochen, die vor Rassismus und
Gewaltverherrlichung nur so strotzt.

Die Macht von RTÜK reicht weit. In den vergangenen Jahren hatte die
Behörde gegen einzelne Sender wiederholt Sendeverbote verhängt. In
der Aufsichtskommission von RTÜK spreche sich eine Mehrheit für die
Absetzung der Serie aus, berichtet die Zeitung "Hürriyet". Doch wolle
sich RTÜK mit dem Sender verständigen. Dessen Chef Ayar räumte ein,
die Sache sei sehr sensibel, und bot an, nun besondere Sorgfalt
walten zu lassen.

Die Anrufer hatten beanstandet, dass die Serie dem Rassismus Vorschub
leiste und damit das Gegenteil dessen bewirke, was für einen
gesellschaftlichen Frieden in der Türkei erforderlich sei. Zudem
setze sie ins Bild, was für die Türken immer mehr zu einer
schrecklichen Gewissheit geworden ist: dass es einen "tiefen Staat"
gibt, in dem Mitglieder des Staats und der Sicherheitsapparate
jenseits des Gesetzes mit der organisierten Kriminalität
zusammenarbeiten und sich dabei auf die Rettung der türkischen Nation
und deren Staat berufen.

Nicht wenige türkische Jugendliche hätten begonnen, sich wie Alemdar
zu kleiden und in ihrer Umgebung Angst zu verbreiten, beobachtet die
regierungsnahe Zeitung "Zaman". Für die Zunahme der Gewalt an den
Schulen macht sie das "Tal der Wölfe" mitverantwortlich. "Hürriyet"
zitiert Mitglieder von RTÜK, die fürchten, Vorbilder wie Alemdar
könnten neue "Ogün Samasts" hervorbringen. Der siebzehn Jahre alte
Arbeitslose Samast hatte am 19. Januar den armenisch-türkischen
Intellektuellen Hrant Dink kaltblütig erschossen.

Bei der Beerdigung hatte dessen Witwe Rakel Dink die Türkei
aufgefordert, sie solle herausfinden, wie Samast zu einem Mörder
hatte heranwachsen können. Serien wie das "Tal der Wölfe" seien zwar
nicht der einzige Grund, aber sie seien ein Teil der Erklärung,
kommentierte Halik Sahin in der Zeitung "Radikal". Diese hatte in den
vergangenen Wochen zu den Wortführern der Kampagne gegen die Rückkehr
der Serie auf die Bildschirme gehört. Sie hatte die Wirtschaft
aufgefordert, den Film zu boykottieren und um den Film herum keine
Werbezeit zu kaufen.

Keine Kontroverse löst bislang in der Türkei indes der auf der
Berlinale gezeigte Film "Das Haus der Lerche" aus. Nur wenige
Zeitungen haben den Inhalt des Streifens knapp zusammengefasst, der
den Genozid an den Armeniern zum Thema hat. Lediglich ein Kritiker
der Zeitung "Radikal" äußerte sich. Er stellt die Aussage der beiden
Brüder Taviani in Frage, dass der Film nicht gegen die Türken
gerichtet sei, sondern gegen die nationalistischen Jungtürken. Im
Film komme nie die Bezeichnung "osmanisch" vor, kritisiert Ahmet
Boyacioglu. Ständig sei von der Türkei und teilweise von der "großen
Türkei" die Rede.

Der Kritiker warnt aber davor, dem "mit vielen Defiziten" behafteten
Film durch übertriebene Kritik zu Ruhm zu verhelfen und zu
wiederholen, was geschehen war, nachdem 2002 in Cannes der Film
"Ararat" des armenischen Regisseurs Atom Egoyan gezeigt worden war.
Nationalistische Schlägerbanden hatten damals gedroht, die Kinos kurz
und klein zu schlagen, die diesen Film zeigten. Zu sehen war der Film
"Ararat" in der Türkei nirgends. Zumindest aber wurde er heftig
diskutiert.

RAINER HERMANN