"Blocher hat sich zu weit rausgelehnt" (German)

06.03.2007 — Tages-Anzeiger Online
«Blocher hat sich zu weit rausgelehnt»

Laut dem Historiker Hans-Lukas Kieser wäre eine internationale
Historikerkommission zur Klärung von Fragen rund um den türkischen
Genozid an den Armeniern sehr nützlich. Doch zugleich müsse ein
politischer Prozess stattfinden.

Eine Historikerkommission müsse nicht primär die Frage klären, ob
ein Genozid stattgefunden habe, sagte der Türkei-Spezialist am
Dienstag im Gespräch mit der Nachrichtenagentur SDA. «Diese Frage
ist unter Experten längst entschieden.» Doch eine Kommission
könnte nützlich sein – ähnlich wie die Bergier-Kommission in der
Schweiz in den 90er Jahren.
Hier habe die Politik jedoch zuvor eingestanden, dass gegenüber den
jüdischen Flüchtlingen Fehler gemacht wurden, und sich entschuldigt.
Auch in der Türkei brauche es einen politischen Prozess.

In diesem Sinn habe sich Bundesrat Christoph Blocher mit seinen
Aussagen, die Bewertung der Frage sei nicht Sache der Regierung und das
Antirassismusgesetz sei zu revidieren, «zu weit rausgelehnt», sagte
der in Zürich lehrende Historiker weiter. «Es bleibt zu hoffen, dass
der Rest des Bundesrates das zurecht biegt.»

Klärung der Verantwortung
Doch um differenziertes Geschichtsbewusstsein zu fördern und
Detailfragen zu klären, wäre eine Kommission sehr nützlich,
unterstrich Kieser. Zum Beispiel die Frage, wer die direkte
Verantwortung für den Genozid an den Armeniern trage: der ganze Staat
oder ein Staat im Staat – Kräfte, die eigenwillig im Namen des Staates
handelten.
Kieser hält den Moment für gekommen, in dem die Türkei einen
Paradigmawechsel anpacken sollte. Bisher habe eine klare, zwingende
Gelegenheit gefehlt. Ein Versuch nach dem 1. Weltkrieg sei mit dem
Befreiungskrieg und dem Aufbau des Nationalstaats wieder abgebrochen
worden. Diese unglückliche Konstellation sei bis heute festgefroren
geblieben.

Doch heute sei die Chance grösser denn je. Mit dem Ende des Kalten
Kriegs, dem EU-Annäherungsprozess und der Ermordung des
armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink sei in der Türkei und
international der Druck und das Bedürfnis zur Klärung gewachsen.
Einem Teil der Politiker sei klar, dass ein Paradigmawechsel nötig
sei. «Sonst dreht sich alles im Kreis.»