Zeit, Deutschland
April 9 2010
Fernsehfilm "Aghet ` ein Völkermord"
"Das ganze Land war ein Schlachthaus"
Der Mord an den Armeniern durch türkische Truppen war der erste
Genozid des 20. Jahrhunderts ` und wird bis heute verschwiegen. Die
ARD zeigt nun einen Film, der eine neue Diskussion entfachen wird.
Das Grab von Talat Pasa liegt auf einem kleinen Friedhof in Istanbul,
der von drei SchnellstraÃ?en umbraust wird. Dort steht auch ein Denkmal
türkischer Nationalisten. Mitunter kommt ein Gärtner und erneuert die
Blumen auf dem Grab, gieÃ?t sie liebevoll.
Anzeige
Talat Pasa ist einer der Hauptverantwortlichen für den ersten gro�en
Völkermord des 20. Jahrhunderts. Unter seinem Kommando schickten
osmanische Beamte und Soldaten 1915 mindestens eine Million Armenier
in den Tod. Das Monumentalverbrechen, das Verhalten des türkischen
Innenministers, das Schweigen in der Türkei und in der Welt ` darum
geht es in einem Fernsehfilm von Eric Friedler, den die ARD am
Freitagabend sendet. Die spielfilmähnliche, hochdramatische
Dokumentation enthält Sprengstoff. Sie wird die Diskussion um den
Platz der Türkei in Europa, um ihr Verhältnis zu Armenien und die
Rolle des Westens neu anheizen.
"Ã`berall auf den StraÃ?en lagen die Leichen, das ganze Land ¦ war ein
Schlachthaus." So erlebte es der amerikanische Konsul im
ostanatolischen Harput 1915. Ihn spielt der deutsche Schauspieler
Hanns Zischler. Mit ihm treten Darsteller wie Martina Gedeck und Axel
Milberg auf, die in die Rollen der Beobachter von damals schlüpfen.
Der Film präsentiert bisher übersehene, sensationelle Dokumente aus
westlichen und armenischen Archiven, die das unvorstellbare Verbrechen
der jungtürkisch-nationalistischen Regierung belegen. Sie gewinnen
neue Kraft und Eindringlichkeit aus dem Munde der Schauspieler.
"In Deir Zor war ein gro�es Konzentrationslager für Armenier aus der
ganzen Türkei aufgebaut", berichtete ein deutscher Arzthelfer. "Als
ich dort war, gab es dort nur noch circa 60.000 Menschen, meist
wandelnde Skelette, ihr Antlitz war vom Hunger entstellt, ihr Gesicht
hatte nur noch wenig Menschliches." Angekommen waren zumeist nur noch
Frauen und Kinder. Die Männer hatten die Soldaten schon vorher
aussortiert. Die schwedische Missionsschwester Alma Johansson,
gespielt von Martina Gedeck, erinnerte sich: "Die verhafteten
armenischen Männer wurden in Hölzer eingeklemmt, die Fü�e mit Nägeln
beschlagen wie Pferde. Die Barthaare, Augenwimpern, die Nägel an den
Fingern und die Zähne herausgezogen. Sie wurden mit Fü�en nach oben
gehängt. Viele sind gestorben, manche überlebten, kamen in ärztliche
Behandlung. So haben wir diese Verletzungen zu sehen bekommen."
Dazu zeigt der Film erschütternde historische Aufnahmen. Armenier –
erschossen, gehenkt, gefoltert, gepfählt, erwürgt, verendet,
geschlagen, verhungert, zu Tode erschöpft. Doch nicht alles in diesem
Film sieht furchterregend und erbarmungswürdig aus. Manches ist
unerwartet schön anzusehen. Die Kamera fährt langsam durch
menschenleere Stra�en und Wohnungskorridore, durch Bäder, Schlafzimmer
und Küchen, an Türen, Schränken und Tassen vorbei, die Bilder sind
unscharf, verfremdet und fügen sich zu eindrucksvollen filmischen
Stillleben zusammen. An anderer Stelle wird der Zuschauer in die
Steppe Südostanatoliens und die syrische Wüste mitgenommen.
Atemberaubend schöne Landschaften, die vor 95 Jahren Schauplatz des
Verbrechens waren. "Es ging darum", sagte der deutsche Generalkonsul
Mordmann in Istanbul, "das hat mir Talat Pasa selbst bestätigt, die
Armenier zu vernichten."
Deutsche Diplomaten und Missionare im Osmanischen Reich waren entsetzt
über die Morde und Vertreibungen. Doch das Deutsche Reich war im
Ersten Weltkrieg mit der jungtürkischen Regierung verbündet, deutsche
Offiziere und Generäle dienten im Osmanischen Heer, Berlin wurde zum
schweigenden Komplizen. Auf die Berichte seines empörten Botschafters
in Istanbul antwortete der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg:
"Unser einziges Ziel war, die Türkei bis zum Ende des Krieges an
unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde
gingen oder nicht."
Viele türkische Muslime zeigten damals mehr Mitgefühl als der deutsche
Kanzler. Manche versuchten, Armeniern zu helfen. Doch viele erstarrten
auch vor der Brutalität ihrer Regierung, die sich sicher sein konnte,
nie zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zu Recht. Der Gründervater der
Türkei, Kemal Atatürk, schwieg. Seither leugnet der säkulare
Nationalstaat den Völkermord, verfolgt die kemalistische Justiz alle,
die das Verbrechen beim Namen nennen.
Westliche Regierungen schweigen zur Sache. Viele Türken wissen nichts
davon oder wollen nichts wissen, einige ahnen etwas, manche haben mit
der Aufarbeitung begonnen. Konferenzen, Ausstellungen, eine
Unterschriftenaktion "Wir bitten um Vergebung" und
Massendemonstrationen für einen 2007 erschossenen armenischen
Journalisten zeugen davon. Und doch ist das noch zu wenig, solange ein
so aufrüttelnder Film wie dieser nur im deutschen und nicht im
türkischen Fernsehen gezeigt werden kann.
Nur Talat Pasa machte aus dem Verbrechen selbst keinen Hehl. Er
fragte damals den amerikanischen Generalkonsul in Istanbul, ob dieser
ihm die Listen der Armenier besorgen könne, die Policen bei
US-Versicherungen abgeschlossen hätten. Talat Pasa meinte, die
Armenier seien jetzt tot, sie hätten auch keine Nachkommen mehr.
Anspruchsberechtigt sei jetzt die türkische Regierung.
An Talat Pasas Ruhestätte liegen heute Blumen, seine Opfer haben noch
nicht mal ein Grab.
"Aghet ` ein Völkermord", ein Film von Eric Friedler, läuft am 9.
April um 23.30 Uhr in der ARD.
film-armenier-voelkermord
http://www.zeit.de/kultur/film/2010-04/zdf-